Chorfahrten

Leipzig, eine begehbare Partitur: Wer sich für Lebensumstände bedeutender Dichter, Denker und vor allem Musiker in ihrer Umgebung interessiert, der muss nach Leipzig fahren. Biographische Fakten, die sonst so schwer verdaulich um die Ecke kommen, werden hier spannungsreich erfahren. "Mein Leipzig lob ich mir! Es ist ein Klein-Paris und bildet viele Chöre". Dieser Empfehlung nach Goethe ist der Propsteichor gefolgt.

Die riesige Bahnsteighalle des Hauptbahnhofes, die großzügig angelegten Boulevards, das dichteste Straßenbahnnetz einer deutschen Großstadt, wir sind in einer Metropole, wir sind in Leipzig. Auf einer Chorfahrt möchte man ein wenig die Seele baumeln lassen, Zeit und Raum in Kaffees vergessen, vor allem nicht die Musik im Mittelpunkt; das haben wir in den Chorproben zu Genüge. Und dann passierte es doch; der Stadtrundgang wurde zu einer begehbaren Partitur. Wie ein Leitmotiv zieht sich die "Notenspur" von einer Musikergedenkstätte zur nächsten. Wir sind ihr teilweise gefolgt, haben uns aber immer wieder durch Querstände in andere Ecken führen lassen.

Gleich zu Beginn des Rundgangs standen wir plötzlich abseits des städtischen Treibens in "Barthels Hof", dem einzig erhaltenen Handelshof aus der Renaissancezeit. Nebenan standen wir vor dem "Arabischen Coffe Baum", Geht man hinein, steht man gleich links im Schumann-Zimmer. Hier hat er in den 1830er Jahren so manchen Abend mit den "Davidsbündlern" diskutiert.

Die Freiheitspalme, der Brunnen und die in das Straßenpflaster eingelassene 144 Lampensteine auf dem Nikolaikirchhof erinnern an die politische Wende von 1989. Wenige Schritte weiter führen wir uns mit vergleichendem Bildmaterial den Wandel des Augustusplatzes vor Augen. Wie sahen die beiden anderen Gewandhäuser aus, wenn dieses hier das dritte ist?

Das vorbildlich restaurierte Mendelssohn-Haus lädt zum Verweilen ein. In Briefen lassen wir den Komponisten zu Wort kommen. Seite an Seite lebten hier im Graphischen Viertel Musiker, wie die Schumanns, Mendelssohn-Bartholdy oder Grieg mit den großen Verlegern Peters, Breitkopf, Reclam oder Brockhaus. Die Geschichten erzählen vom Aufschwung, Zerstörung, Enteignung und nur in wenigen Fällen auch von der Rückkehr in dieses Viertel.

Zurück in der Altstadt fängt die Partitur an zu klingen: Zur "Motette" um 15 Uhr singt der Thomanerchor. Endlich wird auch das Ohr zufrieden gestellt. Am Bach-Denkmal erahnen wir Bachs Dirigierweise, wie sie der Rektor der Thomasschule Joh. Mathias Gesner beschrieben hat: "... wie er ... auf alle zugleich achtet und von 30 oder gar 40 Musizierenden diesen durch ein Kopfnicken, den nächsten durch Aufstampfen mit dem Fuß, den dritten mit drohendem Finger zu Rhythmus und Takt anhält…", usw. usw. Wir schauen zu ihm auf, als würde er gleich lebendig werden.

Der letzte lange Spaziergang des Tages führt durchs Waldstraßenviertel. Hier lassen uns Gedenktafeln innehalten: hier Gustav Mahler, dort Nietzsche. Nach einem erholsamen Spaziergang durch das Rosental erreichen wir Gohlis. Die Fassade des Schlösschens erglühte in der spätsommerlichen Abendsonne. Nach einem lauschigen Abend in der Gosenschenke "Ohne Bedenken" haben wir vorm Schiller-Haus zum Tagesausklang die ersten Zeilen von "Freude schöner Götterfunken" gegrummelt. Hier soll Schiller die Ode in einer Bierlaune geschrieben haben.

Gemeinsam mit dem Chor der Leipziger Propsteikirche haben wir am Sonntagmorgen die heilige Messe gestaltet. Über den modernen Kirchenbau, er liegt in bester Lage am Promenadenring, gibt es sehr unterschiedliche Ansichten. Von der Symbolik, die eindrucksvoll durch den Lichteinfall hervorgerufen wird, waren alle begeistert. Die Gastfreundschaft des Chores durften wir auf dem Sommerfest des Chores schon nach unserer Ankunft am Freitag kennenlernen.

Eine Fahrt auf den Wasserstraßen von Plagwitz führte uns den Wandel von Industriebrachen in innovative und zugleich lebendige Stadtlandschaft vor Augen. Eine Musikschule über dem Kanal - das wär doch mal ein schöner Probenraum!

Martin Rembeck