Der Marsch der Todgeweihten

Kurz vor Ende des Krieges wurden Zwangsarbeiter nach Bergen Belsen getrieben. Viele wurden auf dem Weg ermordet oder starben später im KZ. Das geht uns heute noch etwas an, sagen Christen. Sie machen sich auf den Weg und folgen den Spuren dieser Menschen. Am Freitag, 23. März, geht es wieder los.

70 Kilometer. Zu Fuß. In drei Etappen. Jahr für Jahr. Bei schmaler Kost: Wasser und Brot. Wolfgang Schwenzer nimmt diesem Weg von Hannover nach Bergen Belsen nicht nur auf sich. Er organsiert diesen Sühnegang, hält ihn am Leben und damit die Erinnerung an die Todesmärsche von KZ-Häftlingen. Jeder Schritt ist ein Schritt gegen das Vergessen.

Zum 37. Mal gehen jetzt Christen diesen Sühnegang. Die erste Etappe mit gut 15 Kilometer führt vom ökumenischen Kirchencentrum Maximilian Kolbe im hannoverschen Stadtteil Mühlenberg nach Isernhagen. Die Baracken des Lagers Mühlenberg kenne ich noch als kleiner Junge, erzählt der 69-jährige Wolfgang Schwenzer. Zu den 3000 Zwangsarbeitern, die seit Kriegsbeginn dort untergebracht waren und bei der Hannoverschen Maschinenbau schuften mussten, wurden im Februar 1945 noch 500 Häftlinge  aus dem Außenlager des KZ Auschwitz in Laurahütte zugepfercht. Zwei Monate später wurde das Lager geräumt und die Häftlinge zur Vernichtung auf die Todesmärsche geschickt. Dass heute das Kirchencentrum den Namen des polnischen Franziskaner-Minoriten trägt, der 1941 in Auschwitz durch die Nazis ermordet wurde, ist für Schwenzer Mahnung und Verpflichtung zugleich.

Mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Der zweite Tag, der Samstag, ist immer eine besondere Herausforderung, sagt Schwenzer. Nicht nur wegen der 35 Kilometer, sondern auch wegen der besonderen Orte, die die Pilger ansteuern: An der Scheune der Pestalozzi-Stiftung in Großburgwedel wurden Häftlinge von SS-Wächtern erschossen, weil sie Brot vom Proviantwagen nehmen wollten, berichtet Schwenzer. Die Einschusslöcher seien heute noch zu sehen. Oder Fuhrberg: Dort erinnert eine Holzstele an die Gräuel der Todesmärsche. Sie steht auf dem Kirchhof der evangelischen Ludwig-Harms-Kirchengemeinde. Dreieckig geformt trägt sie als Inschrift den Ausruf Jesu Christi Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? auf hebräisch, lateinisch und deutsch.  Geschaffen wurde sie 1995 vom ortsansässigen Künstler Hansjörg Pfluger aus einem Eichenholzbalken der Scheune, in der die Häftlinge für eine Nacht eingesperrt waren.

Diese Momente sind für Schwenzer, den ehemaligen Polizisten, besonders wichtig. Aus zwei Gründen. Zum einen: Sie zeigen, dass Geschichte niemals Vergangenheit ist, sondern immer nachwirkt. Zum anderen: Die Geschichte zwingt uns darüber nachzudenken, ob wir Rassismus und Antisemitismus der Nazis wirklich überwunden haben und müssen bemerken, dass der Schoß noch fruchtbar ist, betont Schwenzer. Auch wenn sich Nazis heute anders nennen. Er zitiert den ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck: Euer Hass ist unser Ansporn das hat Gauck bei seiner Antrittsrede 2012 an die Adresse von Rechtsextremen gesagt. Und das ist auch unser Ansporn zu laufen. Unrecht könne nicht einfach abgewickelt werden nicht mal durch Urteile gegen Nazi-Täter und Holocaustleugner.

Am dritten Tag steuern die Pilger ihr Ziel an den sowjetischen Kriegsgefangenenfriedhof in Hörsten. Zwei Nächte auf Luftmatratzen in Pfarrheimen liegen hinter ihnen. Eine wichtige Erfahrung hat Schwenzer in all den zurück liegenden Jahren gemacht: Diese zwei Tage verändern die Menschen, die sich auf den Weg gemacht haben. Die Zeitzeugenberichte, die immer wieder verlesen werden, die Gebete für die Opfer, aber auch für die Täter und für die, die weggeschaut haben, die nicht die Kraft hatten, menschlich zu bleiben, wie es Schwenzer formuliert das bleibe nicht ohne Spuren. Die äußere Bewegung des Pilgerns erleichtere die innere Bewegung, das Schauen und Nachdenken, das Schweigen und Sprechen. Oder kurz: Schritte gegen das Vergessen.

Informationen über den Bußgang gibt es bei Wolfgang Schwenzer, E-Mail <link>Schwenzerwolf@t-online.de

Rüdiger Wala