Die Erbsen esse ich nicht ...

Was Macht macht – in Kita und Pfarrei

Über Machtfragen in Kita und Sakristei: Das Nachdenken über Regeln hilft – vor allem in der eigenen Haltung.

Schätzfrage: Seit wann haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung? A.) Seit den 1970-er Jahren; B.) seit 2000; C.) schon immer oder D.) immer noch nicht? Richtig ist: Antwort B.

Tatsächlich ist erst seit dem 8. November 2000 das „Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ in Kraft. Vorher war vom Gesetzgeber zumindest nicht sanktioniert, dass der Klaps auf den Po noch niemandem geschadet hätte. Oder: „Wer die Rute spart, hasst seinen Sohn, wer ihn liebt, nimmt ihn früh in Zucht.“ Das ist biblisch – Buch der Sprichwörter (Spr 13,24).

Im Jahr 2000 hat Christina Reinert die Leitung der Kindertagesstätte St. Antonius in Hannover-Kleefeld übernommen. Eine kleine überschaubare Einrichtung. Seit 1946 gibt es eine Kindergartengruppe, jetzt mit 25 Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren. 2013 kam eine Krippe dazu. Hier werden 15 Kinder im Alter von ein bis drei Jahren betreut.

Christina Reinert sagt von sich: „Ich bin eine Vollbluterzieherin.“ Seit fast 40 Jahren ist sie in dem Job, der für sie eine echte Berufung ist. 1984 hat sie mit ihrer Ausbildung begonnen, auch in einer katholischen Kita: „Sogar ganz in der Nähe, in St. Anna, heute St. Martin.“ Nur einen Stadtteil weiter und mittlerweile sogar die gleiche Pfarrgemeinde. Sie wird zweimal Mutter, arbeitet halbtags und möchte als ihre Söhne größer sind, wieder voll einsteigen: Daher wechselt sie 1995 nach St. Antonius.

Die Zeiten, als der Klaps auf den Po angeblich nicht schaden würde, kennt Christina Reinert noch aus ihrer eigenen Lebensgeschichte. Oder aus dem Alltag der Kita: „Wenn Kinder sich gestritten haben, wurde einfach eines in die rechte und eines in die linke Ecke gestellt.“ Da wurde auch an den Kindern gezerrt. Weil die Erzieher*innen das konnten. Weil das gesellschaftlich üblich war. Schließlich galten Kinder lange Zeit als Eigentum ihrer Eltern. Und auch andere Autoritätspersonen durften ihnen etwas auf die Finger geben.

„Natürlich haben wir Erzieher*innen Macht“, betont Christina Reinert. „Macht“ ist aus der Pädagogik nicht wegzudenken: „Sie kann positiv genutzt werden, sie kann aber auch missbraucht werden.“ Dieser oftmals ganz feine Unterschied liegt für Christina Reinert in der Haltung – und darin, wie die Beteiligung von Kindern in einer Kita im Alltag der Einrichtung möglich wird.

Was die Haltung betrifft, hat die Kita-Leiterin einen klaren Leitgedanken: „Kinder werden nicht erst zu Menschen, sie sind bereits welche.“ Ein Satz, der auf den polnischen Arzt und Pädagogen Janusz Korczak zurückgeht – und den er 1921 niedergeschrieben hat. Fast acht Jahrzehnte bevor in Deutschland Gewalt in der Erziehung endgültig untersagt wurde. Korczak hatte von 1912 an ein jüdisches Waisenhaus in Warschau geleitet, zahlreiche Bücher geschrieben – und ging mit 200 seiner Waisenkinder 1942 im Vernichtungslager Treblinka in den Tod.

Die gleiche Augenhöhe zwischen Erzieher*innen und Kindern: Das ist ein Gedanke, der sich wie ein roter Faden durch die Schriften von Korczak zieht. Und einer, den Christina Reinert im Alltag ihrer Kita immer wieder zu verankern sucht. Für sie beginnt die gleiche Augenhöhe mit den Kindern darin, in der Kita über Macht nachzudenken: „Die Beteiligung von Kindern beginnt in den Köpfen der Erwachsenen.“

Ganz abgeben können Erzieher*innen ihre Macht natürlich nicht. Schließlich ist ihr Alltag auch immer eine Gratwanderung zwischen Aufsichtspflicht und Kindeswohl, zwischen Trotz, Trauer und Tränen. Denn die „Machtfrage“ wird in der Kita täglich gestellt. Was, wenn ein Kind das Mittagessen mit Wucht beiseite schiebt: „Erbsen esse ich nicht.“ Oder wenn zwei Kinder beim Buddeln im Sand sich erst in die Haare und dann an die Schaufeln geraten? Dürfen Kinder in der Kita ‚trotzig’ sein? Und dürfen Erzieher*innen auch mal laut werden?

„Ja und ja“, antwortet Christina Reinert. Solche Situationen kommen immer wieder vor. Sie dürfen aber nicht einfach beiseite geschoben werden oder man so tun, als ob es sie nicht gegeben hätte. „Für uns in der Kita ist wichtig, dass wir die Rechte der Kinder immer wieder klären.“ Dazu gehört beispielsweise der Umgang mit Regeln und Regelbrüchen. „Darüber wird immer wieder mit den Kindern gesprochen, dafür haben wir Worte, Gesten und Piktogramme – und es funktioniert.“ Selbst bei den ganz Kleinen. Auch bei ihnen können Erzieher*innen ein Stück ihrer Macht abgeben.

Noch eines ist für Christina Reinert bedeutsam: „Die Kinder dürfen sich auch über die Fachkräfte beschweren.“ Gibt es Probleme, ist in St. Antonius sichergestellt, dass die Kinder gehört werden. Missverständnisse können ausgeräumt, Verhaltensweisen erklärt werden. Das führe auch bei den Kindern zu einer grundlegenden Erkenntnis: „Ich werde gefragt, meine Meinung zählt, aber auch die der anderen“, beschreibt es die Kita-Leiterin.

Für die Kinder ist sie übrigens „Reini“. Sie wird von ihnen geduzt, aber es ist auch klar, dass sie im Zweifelsfall „der Boss“ ist. Nicht, weil sie ‚die Leitung’ ist, sondern weil sie die Kinder ernst nimmt, sie beteiligt. „Das Nachdenken über Macht, über Regeln hilft, das eigene Handeln klarer zu bestimmen.“

Von der Kita zur Sakristei: Regeln helfen beim Bestimmen von Haltung, Rolle und Verhalten. Das ist eine Erfahrung, die Pfarrer Wolfgang Semmet gemacht hat. Er ist leitender Seelsorger von St. Heinrich und St. Godehard in Hannover. Die beiden Pfarreien mit ihren insgesamt sieben Kirchorten decken große Teile der Innenstadt und im Westen Hannovers ab. Beide Pfarreien haben ein institutionelles Schutzkonzept für die Prävention gegen sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche erarbeitet. Ein Aspekt dabei: bauliche Maßnahmen. „Wir wollten keine dunklen Ecken mehr in unseren Kirchen und Gemeinderäumen“, erläutert Semmet: durchsichtige Türen in Sakristei und Beichtzimmer, Glaselemente und Bewegungsmelder. Überall Licht und Transparenz.

Doch es gibt für Semmet noch eine andere Seite dieses Schutzkonzeptes, jenseits von Glas und Elektrik. Etwas, das sein eigenes Verhalten und damit auch seine Haltung gegenüber Kindern und Jugendlichen in den Blick nimmt. Semmet muss sich mit Misstrauen auseinandersetzen – gegen die Institution Kirche, gegen die Rolle des Pfarrers und damit auch gegen die eigene Person.

Unter Generalverdacht aufgrund seiner Rolle gestellt zu werden, behagt ihm selbstverständlich nicht. Aber das sei nicht entscheidend: „Wichtig ist, dass solche Konzepte auch für mich selbst einen großen Schutz darstellen.“ Es helfe Priestern immens, wenn Räume durch Glaselemente offen einsehbar sind.

Gleichzeitig hat sich auch sein Verhalten geändert, sowohl aus Schutz als auch aus Respekt. Beispiel Sakristei: „Wenn das Gewand eines Ministranten nicht ordentlich saß, habe ich das früher selbstverständlich vor dem Gottesdienst schnell selbst zurechtgerückt.“ Auch ohne vorher zu fragen. Große Gedanken habe er dem damals nicht beigemessen. Das sei heute anders: „Ich mache das nicht mehr.“ Natürlich fragt er jetzt eine Ministrantin oder einen Ministranten, ob er das Gewand anfassen darf. Oder er bitte gleich einen anderen Messdiener das Gewand zurechtzurücken.

Oder Freizeiten mit Kommunionkindern: Übers Wochenende wegfahren – das macht Semmet noch. Aber die Schlafräume der Kinder betritt er nicht mehr. Früher habe er natürlich Kindern geholfen, die um Unterstützung beim Beziehen von Betten baten. Große Laken, kleine Arme. Aber seit den Missbrauchsfällen bittet Semmet die Katechet*innen, den Kindern zu helfen. So schwer es fällt: Aber es entlastet ihn in seiner Rolle und deren durchaus öffentliche Wahrnehmung.

„Seit meiner eigenen Präventionsschulung stelle ich mir die Frage von Nähe und Distanz nun viel bewusster“, betont Semmet: „Das würde ich gerne auch anderen Erwachsenen vermitteln.“ Denn nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Gesellschaft werden Kinder immer wieder in die Ecke gedrängt. Sie müssen sich wehren, weil ihnen Erwachsene zu nahe kommen. „Wenn es uns als Kirche gelänge, dass dieses Bewusstsein überall stärker wird und wir dazu beitragen könnten, dass Kinderrechte respektiert werden – dann wäre ich zufrieden“, meint der Pfarrer.

Natürlich wirbt Semmet in Gesprächen dafür, die Kirche differenzierter wahrzunehmen und nicht alles, auch nicht alle Priester, über einen Kamm zu scheren: „Wir dürfen aber auch nichts unter den Teppich kehren.“ Es ist passiert, und es hat Auswirkungen – auch auf sein Verhalten: „Ich versuche darauf zu reagieren, indem ich mich frage, was ich tun kann, um die Situation zu verbessern. Das ist dann mein Part.“

Nachdenken über Macht, über für zu selbstverständlich genommenes Verhalten. Regeln finden, einüben, Kinder und Jugendliche beteiligen. Das hilft beim Finden der Haltung, beim Hinterfragen von Tun und Handeln. In der Kita und in der Sakristei.

Rüdiger Wala