Die schwere Last der Familiengeschichte

Heute vor 72 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Mittlerweile weiß man, dass eine ganze Generation durch ihn schwer traumatisiert wurde. Deren Kinder treffen sich regelmäßig im ka:punkt in Hannover zu einem Gesprächskreis. Sie wollen das Trauma ihrer Eltern verstehen lernen.

?dass ich so traurig bin! ist der Name des Gesprächskreises für Kriegsenkel. Monika Weidlich leitet die Gruppe ehrenamtlich. Mit ihrer Unterstützung können sich Betroffene austauschen und auf Verständnis für ihr Leid treffen. Denn gefühlskalte Eltern und ein Trauma, was über die Generationen hinweg weitergegeben wurde, belastet viele noch heute.

 

Frau Weidlich, woher kommt Ihr Interesse für das Thema Kriegsenkel?

Der Grund ist schlicht und ergreifend: Ich bin eine Betroffene. In unserem Gesprächskreis für Kriegsenkel spielt der familiäre Hintergrund eine große Rolle. Ich bin Jahrgang 1961 und das Kind von zwei Menschen, die beide Jahrgang 1935 sind. Meine Eltern sind in Schlesien geboren, haben Flucht und Vertreibung miterlebt und nach dem Krieg ihren Vater nicht mehr wiedergesehen. Der eine Großvater von mir ist vermisst, der andere ist in Russland bei einer Schlacht umgekommen.

 

Wer gehört überhaupt zur Generation der Kriegsenkel?

Die Generation der Kriegsenkel kann man nicht so sehr an einem Geburtsjahr festmachen. Zunächst ist ein Rückbezug auf die Geburtsjahre der Eltern vorzunehmen. Das sind die Kriegskinder, die den Jahrgängen von etwa 1930 bis 1945 angehören. Sie waren weder im Krieg involviert noch in irgendwelchen Funktionen eingespannt. Die Kinder der Kriegskinder sind die Kriegsenkel. Wir Kriegsenkel können also in den Jahren von 1950 und 1985 geboren sein. Die meisten, die sich für das Thema interessieren, gehören den Jahrgängen zwischen 1960 und 1980 an.

 

Welche Auswirkungen hat der Krieg auf die Generation zwischen 1930 und 1945 gehabt?

Zunächst muss man sich überlegen, was es hieß, im Krieg ein Kind zu sein. Für Kriegskinder ist es kennzeichnend, dass sie emotional relativ unzugänglich sind. Auf der Flucht oder im Bombenkeller durfte man keine Gefühle zeigen. Da ging es nur um das berleben. Deshalb haben Kriegskinder ihre Emotionen ziemlich abgeschnitten. Dementsprechend sind sie dann ihren eigenen Kindern begegnet. Das heißt, wir Kriegsenkel haben eine Kindheit gehabt, in der oft äußerlich alles gestimmt hat: heile Familien, das eigene Kinderzimmer, die gute Schulbildung und die Urlaubsreisen. Verknüpft war das aber alles damit, dass die Beziehung zu den Kindern emotional eher unterkühlt war. Unsere Eltern konnten nicht trösten und die Befindlichkeiten ihrer Kinder wahrnehmen. Das gipfelte für uns Kriegsenkel in der Aussage: ?Stellt euch nicht so an. Gelitten haben doch wir, wir Kriegskinder. Ihr habt doch das Schlaraffenland in eurer Kindheit und Jugend.?

 

Was verbindet die heutigen Kriegsenkel miteinander?

Viele Kriegsenkel berichten von Erfahrungen wie: ?Ich habe immer so eine Traurigkeit und stehe nicht auf festen Füßen. Ich fühle mich heimatlos. Ich halte es bei keiner Arbeitsstelle lange aus. Ich halte es in keiner Beziehung lange aus. Immer muss ich irgendwie fliehen, flüchten und dauernd umziehen.? Das sind so weiche und unspezifische Befindlichkeiten in unserer Generation. Inzwischen spricht die Psychologie von einer transgenerationalen Weitergabe von Traumata. Demzufolge packt eine Generation ihre unbearbeiteten Traumata der nächsten Generation auf den Buckel. Unserer Eltern haben letztendlich ihre Kriegstraumata nicht bearbeiten können. Nach dem Krieg gab es nicht diese Vielzahl von Therapeuten, die man gebraucht hätte, um ein ganzes Land zu therapieren. Die Kriegskinder haben alles weggedrängt und einfach gesagt: ?Der Krieg ist vorbei. Wir haben Schuld gehabt und ziehen die Köpfe ein. Wir bauen das Land wieder auf. Wir machen etwas daraus, der Rest ist vergessen. Rede nicht darüber, lass die alten Geschichte vorbei sein.?

Dieses Verhalten ist uns als nachgeborene Generation offensichtlich nicht gut bekommen. Kinder spüren, wenn Dinge verdrängt und verschwiegen werden. Natürlich spüren sie auch, ob sie von ihren Eltern liebevoll angenommen werden oder nur funktionieren sollen.

 

Wie genau funktioniert eine Weitergabe von Traumata über die Generationen hinweg?

Man müsste es im Prinzip als ein Sekundärtrauma bezeichnen. In der Literatur wird in dem Zusammenhang auch von Traumaschatten gesprochen. Das Trauma liegt schon klar bei den Eltern, aber ein Schatten davon hat sich auf unsere Kindheit gelegt. Einige psychologische Autoren unterscheiden Traumata, die punktuell wirken und sogenannte Entwicklungstraumata. Bei uns Kriegsenkel kann man mit Sicherheit von einem Entwicklungstrauma reden, weil die Eltern eher kalt und abweisend waren. Unsere Elterngeneration war die Generation der Kriegskinder. Das waren nicht die Kuscheleltern, zu denen die Kinder zum Kuscheln ins Bett kommen durften. Wir hatten immer das Gefühl, du musst funktionieren, sonst kriegst du Ärger oder sogar Schläge. Du bist nicht in Ordnung, so wie du bist.

 

Sie leiten im ka:punkt einen Gesprächskreis für Kriegsenkel. Was hilft den Teilnehmern?

Wir verstehen uns als Selbsthilfegruppe. Vor allem als Anlaufstelle, um uns endlich mal ausdrücken zu können. In vielen Familien wollen Eltern und Geschwister nichts davon hören. Häufig gibt es aber ein Kind in der Familie, das sagt: ?Ich habe so ein unklares Leiden. Das Thema Kriegsenkel, das passt, das trifft auf mich zu.? Ich stelle nunmehr seit vier Jahren einen Rahmen zur Verfügung, in dem wir achtsam miteinander umgehen. Es werden Geschichten von Schmerzen, Trauer und Zurücksetzungserfahrungen erzählt. Die anderen Teilnehmer hören zu und sagen: ?Genau, ich verstehe dich. Das habe ich auch erlebt. Du bist nicht verrückt.?

Daraus entwickeln sich manche Dinge. Wir weisen wir uns gegenseitig auf Bücher hin und tauschen Artikel aus. Manche vernetzen sich auch privat. Aktuell nehmen etwa 15 Kriegsenkel an unserem Gesprächskreis teil. Es kommen immer wieder neue Menschen hinzu, die sich von dem Thema angesprochen fühlen. Bei einem Großteil, der schon lange kommt, kann ich allein durch den monatlichen Austausch eine positive Entwicklung feststellen.

 

Zur Person:

Monika Weidlich ist Heilpraktikerin für Psychotherapie und Kulturpädagogin in Hannover. 1961 geboren von Eltern mit dem Jahrgang 1935 gehört sie selbst auch zum Kreis der Kriegsenkel.

Martina Stabenow