Ein anderes Heimatgefühl

60. Woche der Brüderlichkeit - St.-Ursula-Schule erhält Abraham-Plakette

Zum 60. Mal veranstalten die Gesellschaften für Christlich- Jüdische Zusammenarbeit in diesem Jahr die Woche der Brüderlichkeit. Orte der Begegnung, in denen es möglich ist, konkrete Menschen mit ihrem Hintergrund und ihrer Meinung zu erleben, sind ein kostbares Geschenk für den Dialog, kommentiert Propst Martin Tenge. Es gilt Dank zu sagen, dass sich die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Hannover e.V. seit 1953 dieser Dialog-Herausforderung stellt.

Bei der Hauptveranstaltung in Hannover am 25. März wird erstmals die Abraham-Plakette verliehen. Für ihren Einsatz für Erinnerung und Versöhnung werden die St.-Ursula-Schule und die Humboldtschule geehrt. Eines der Projekte, für die das katholische Gymnasium in der Südstadt die Auszeichnung erhält, ist das Seminarfach Spurensuche.

Die sieben Schülerinnen und Schüler des Seminarfachs Spurensuche haben die Geschichte ihrer Schule zur Zeit des Nationalsozialismus untersucht. Das Seminarfach bietet die Möglichkeit, sich in ein Thema außerhalb des Lehrplans zu vertiefen und die Facharbeit darüber zu schreiben, erklärt Lehrer Friedrich Huneke. Die Spurensucher haben die Schulakten durchforstet und sich auf die Suche nach Zeitzeuginnen gemacht. Liesel Suchaczewski zum Beispiel, eine jüdische Schülerin, die mit ihrer Familie nach Brasilien emigriert ist. Sie lebt bis heute in Sao Paolo. Ihre Schwester ist nach einem abenteuerlichen Lebensweg nach Deutschland zurückgekehrt. Die Spurensucher, die jetzt kurz vor ihrem Abitur stehen, haben sie in Hamburg ausfindig gemacht und in die Schule eingeladen. Marina Welb war beeindruckt von den Geschichten der alten Dame. Sie hat sich hinterher noch einmal bei mir gemeldet und will mit uns in Kontakt bleiben, berichtet die Schülerin. Wir sind die letzte Generation, die die Chance hat, mit den Zeitzeugen zu reden.

Die Abraham-Plakette ist nicht die erste Auszeichnung, die die Spurensucher bekommen: Den Bürgerpreis des Stadtbezirks Südstadt-Bult erhielten sie für ihre Recherchen über die Familie Jacobs. Die jüdische Familie, die schräg gegenüber der Schule in der Simrockstraße 9 wohnte, hatte weniger Glück als die Suchaczewskis: Der Vater floh nach Brüssel und wollte von dort aus die Emigration der ganzen Familie vorbereiten. Aber er wurde vom Einmarsch der Deutschen überrollt, seine Spur verliert sich in Ausschwitz. Auf einer Tafel, die jetzt an der Schulmauer hängt, haben die Schüler das Schicksal der Familie nacherzählt und vor dem Wohnhaus der Jacobs? zusammen mit dem Künstler Gunter Demnig Stolpersteine verlegt, kleine Gedenktafeln aus Messing im Gehwegpflaster. Für ihre Recherchen haben sie mit Archiven von Brüssel bis Ausschwitz korrespondiert. Valerie Glatzel hat mit ihrer Facharbeit sogar den Landespreis und den dritten Bundespreis beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten gewonnen.

Ich habe jetzt ein anderes Heimatgefühl, sagt ihr Mitschüler David Hörning. So sehr er Hannover und die Südstadt liebt er kennt jetzt auch ihre dunklen Seiten. Es sind diese kleinen Momente, berichtet er, die einen direkt in die Zeit hineinwerfen: Etwa wenn man unter einem historischen Dokument den Stempel mit Heil Hitler entdeckt. Was die Rolle der St.-Ursula-Schule in dieser Zeit betrifft, gibt es auch für nachfolgende Schülergenerationen noch Forschungsbedarf. Wie ist es zum Beispiel zu deuten, dass an Samstagen eine Art ideologischer Nachhilfeunterricht für Mädchen angeboten wurde, die nicht in der NS-Organisation Bund deutscher Mädel waren? Es könnte ein Ausweichmanöver sein, überlegt Lehrer Friedrich Huneke. Möglicherweise deckte die Schule damit Mädchen, die sich dem Regime verweigerten. Fest steht: 1939 wurde die Schule von den Nazis geschlossen. Die Spurensuche wird weitergehen.

Annedore Beelte