Hier wirst du schön bedient und bekommst alles

Social Lunch ? so nennt sich ein aufkommender Trend unter Hannovers Gastronomen. Sie laden Obdachlose und Menschen in Not zu einem kostenlosen Mittagessen ein. Ein Trend, der sich gerne durchsetzen darf, wenn es nach Ramona Pold vom Caritasverband Hannover geht.

130 Gäste sind an diesem Montagmittag in Hannover zum Lunch gekommen. Ihr Ziel: das stadtbekannte Lokal Ständige Vertretung (StäV) am zentralen Aegidientorplatz, ein Treffpunkt für Politiker und Banker. Geschlossene Gesellschaft steht auf einem großen Schild am Eingang. Nur wer eingeladen ist und ein farbiges Bändchen vorweisen kann, darf eigentlich rein. Aber die Türsteher drücken immer wieder ein Auge zu. Heute soll keiner hungrig bleiben und alle willkommen sein. Denn die Türsteher sind eigentlich Sozialarbeiter und ehrenamtliche Helfer in den Tagestreffpunkten für Wohnungslose und Menschen, die von Armut betroffen sind. Und die Gäste im angesagten Lokal suchen sonst in diesen Einrichtungen nach Wärme, einem netten Gespräch und etwas zu Essen.

Im Gastraum der StäV stehen große, schwere Holztische und Stühle für die Gäste bereit. Bierkrüge mit Besteck und Servietten auf den Tischen schaffen ein rustikales Ambiente. Von den Wänden blicken auf hunderten Fotografien Politiker auf die Gäste herab: Bundeskanzler und Präsidenten, Staatsoberhäupter anderer Länder und Blaublüter. Gucke mal, da ist ja auch der Honecker, sagt Hans- Joachim mit einem Berliner Akzent. Ist dat da neben ihm Schröder? Dagmar, die ihm gegenüber sitzt, hatte gerade die Speisekarte studiert. Sie schaut auf. Ich glaube schon, sagt sie langsam und bedächtig. Jedes Wort kommt etwas verzögert. Die 47- Jährige hatte vor einiger Zeit einen Schlaganfall und ist seitdem halbseitig gelähmt. Regelmäßig muss sie zur Physiotherapie. Schritt für Schritt geht es mit Dagmar bergauf. Sie konnte sogar die Stufen in den hinteren Gastraum der StäV mit einem Stock selbst erklimmen. Der Rollstuhl wäre zu unpraktisch gewesen. Ich bin schon seit einem Jahr nicht mehr in einem Restaurant gewesen, erzählt sie. Eigentlich hat sie viele Jahre als Kaufmännische Angestellte im Immobilienbereich gearbeitet. Aber seitdem sie den Schlaganfall hatte, lebt sie von Hartz IV. Kein Mann, keine Kinder und am Ende des Monats die Frage, wovon man sich ernähren soll.

Ich vermeide immer so lange wie möglich, Hilfe anzunehmen. Erst wenn der Kühlschrank komplett leer ist, lasse ich mich blicken, sagt auch Hans. Der 54 Jahre alte ehemalige Lokführer hat nach fünf Jahren auf der Straße endlich eine eigene Wohnung gefunden. Aber auch bei ihm reicht am Ende des Monats das Geld nicht. Ich finde das hier eine richtig klasse Aktion. Hier wirst du schön bedient und bekommst alles, sagt er und bestellt das Bundestag- Schnitzel mit Pommes. Dagmar nimmt doch lieber die Currywurst. Kellner Steven eilt ganz in schwarz gekleidet zusammen mit seinen Kollegen zwischen den Tischreihen hin und her. Der Restaurantfachmann will den Gästen den besten Service bieten: Ich kann hier aktiv dazu beitragen, dass es Menschen, die unglücklich in eine Situation geraten sind, gut geht und dass sie eine schöne Zeit haben. Das ist viel besser, als jemanden auf der Straße Geld zu geben, denn da weiß man nicht, wo es hingeht, sagt er und serviert beschwingt Cola und Apfelsaftschorlen. Es stehen nur alkoholfreie Getränke auf der Karte.

Der Aegidientorplatz in Hannover ist eigentlich ein Ort für Menschen, die es beruflich geschafft haben. Die StäV ist in Hannover erste Anlaufstelle in der Mittagspause für Banker der Nord LB, die gleich um die Ecke ihr Büro haben. Auch die Unternehmensberater von Deloitte sind hier Stammgäste. Unsere Stammgäste sind etwas ruhiger. Und heute sind auch mehr Leute mit Handicaps dabei als sonst, sagt Kellner Steven. An einem Tisch gibt es Streit. Eine Frau mit schwarzen langen Haaren hat die anderen Gäste beschimpft. Sie fängt mit ihrem Sitznachbarn einen Streit um ein Glas Apfelsaft an. Ein älterer Mann geht zu Ramona Pold, die den Tagestreffpunkt des Caritasverbandes Hannover koordiniert. Schüchtern sagt er: Ramona, das geht so nicht. Die macht so einen Stress. Sozialarbeiter Steven Filitz von der Caritas ist zur Stelle, schnell kann die Situation friedlich gelöst werden. Mit jedem Tisch, der sein Essen bekommt, wird es ruhiger im Gastraum. Auch wenn es so scheint, steht heute aber nicht das Essen im Vordergrund, sagt Ramona Pold. Sondern es geht darum, dass die Menschen spüren, dass sie ein normaler Teil der Gesellschaft sind. Dass sie willkommen sind und sich wie ein ganz normaler Gast auch in geselliger Runde treffen können. Der Austausch mit den anderen Wohnungslosen oder von Armut betroffenen Menschen sei sehr wichtig. Darum gab es auch den Wunsch von Seiten der Obdachlosen, unter sich zu bleiben und die Gesellschaft zu schließen. Denn man sieht nicht jedem an der Nasenspitze an, dass er in prekären Verhältnissen lebt. Der Social Lunch in der StäV ist bereits der dritte in Hannover. Angefangen hatte alles mit dem spanischen Restaurant Besitos an der Goseriede. Der dortige Geschäftsführer Marc Schinköth wollte etwas Gutes für die Obdachlosen tun und sprach den Caritasverband an. Zweimal hat dort seitdem der Social Lunch stattgefunden. Eine Wiederholung ist bereits in Planung.

Der Geschäftsführer der StäV, Matthias Wenkel, hörte von seiner Frau von der Aktion im Besitos. Ich habe mir vorher nie Gedanken über Obdachlose oder arme Menschen gemacht. Weil ich außerhalb der Stadt wohne, war mein einziger Berührungspunkt damit, dass ich ab und zu auf der Autofahrt eine arme Seele unter einer Brücke liegen habe sehen, sagt er. Er war unsicher, was ihn und sein Team beim Social Lunch erwarte. Ich bin angenehm überrascht. Einige haben sich richtig zurecht gemacht. Das sind ganz normale Leute, die einen Schicksalsschlag erlitten haben, stellt er jetzt fest. Dass sein Engagement und das des Besitos Schule macht, hofft der Caritasverband. Wir hoffen, dass hier gerade eine neue Tradition am Entstehen ist, sagt Ramona Pold.

Dagmar und Hans haben inzwischen ihr Essen bekommen. Die Currywurt ist hervorragend, findet Dagmar. Ihre geschwächte Gesichtsmuskulatur lässt noch nicht viel Mimik zu, ihre Augen aber leuchten hinter der braunen Brille. Sie wohnt etwas außerhalb und kann aufgrund ihres Schwerbehindertenausweises regelmäßig per Bahn zum Tagestreff in die Innenstadt kommen. Hier trifft sie neue Leute und kann sich unterhalten. Datt et so eine tolle Aktion für Menschen wie uns gibt, ist super, sagt Hans. Et ist einfach was anderes, in einem Lokal zu essen. Einmal im Leben wollte ich auch mal hier gewesen sein.

Marie Kleine