Und plötzlich waren sie nicht mehr da

An die Menschen, die von Amts wegen bestattet werden, erinnert keine Trauerfeier und kein Grab. Die Evangelische und Katholische Kirche wollen aber ihrer gedenken und feiern darum jedes Jahr einen Gottesdienst für die Namenslosen dieser Stadt. Für diejenigen, die sich nicht von ihren Nachbarn, Freunden oder Bekannten verabschieden konnten, ein wichtiges Ritual.

Orgelmusik in Moll erfüllt die barocke Kuppel der Basilika St. Clemens im Herzen Hannovers. Vor dem Altar vier große Stelen, an denen auf langen Papierrollen Namen von Verstorbenen mit ihren Geburts- und Sterbedaten zu lesen sind. Manche von ihnen haben lange gelebt, manche sind nicht älter als fünfzig geworden. Sie alle haben gemeinsam, dass sie im vergangenen Jahr in Hannover von Amts wegen bestattet wurden. Das heißt, dass von ihnen keine Angehörigen ausfindig gemacht werden konnten, die sich um ihre Beerdigung kümmern und diese bezahlen. Der Staat musste einspringen. 345 Menschen wurden so im vergangenen Jahr alleine in der Stadt Hannover bestattet anonym. Unter den von Amts wegen Bestatteten sind Obdachlose, aber auch Menschen, die ihre Angehörigen und Freunde einfach aus den Augen verloren haben. Unter ihnen sind Christen, Muslime und Atheisten.

Eine Frau mit dunklen Haaren ist heute zum kumenischen Trauergottesdienst Unvergessen gekommen, um sich an ihre gute Bekannte zu erinnern. Jede Woche hatte sie sie im ka:punkt, dem katholischen Treffpunkt in der City von Hannover, gesehen und mit ihr gequatscht. Eines Tages kam sie nicht mehr. Wir haben dann angerufen und angerufen. Schließlich haben wir die Polizei gerufen, die die Tür aufgebrochen hat. Aber da war es schon zu spät, erzählt sie. Ihre Bekannte hatte keine Angehörigen. Niemand, der das Recht hatte, sich um ihre Beerdigung zu kümmern. Sie wurde eingeäschert und in einem anonymen Urnengrab bestattet. Frühmorgens, bevor die Friedhöfe öffnen. Keiner stand an ihrem Grab. Es wurden keine Gebete für sie gesprochen. Ihre Bekannte ist eine der 345.

Der Wert einer Gesellschaft zeigt sich nicht am Bruttosozialprodukt, sondern daran, wie sie mit den Schwachen und ihren Toten umgeht, sagt Propst Martin Tenge im Gottesdienst. Die Toten lebten zum Teil unter schwierigen Bedingungen. Aber manche sind einfach nur einsam gestorben, ohne dass es jemand mitkriegt. Das passiert manchen. Er erinnert sich daran, dass eine ehrenamtliche Engagierte aus einer katholischen Gemeinde vor kurzem gestorben sei. Plötzlich habe sich herausgestellt, dass die Frau keine Familie hatte. Es gab kein Testament, die Beerdigung war nicht geregelt. Nur unter großen Mühen hat die Gemeinde verhindert können, dass der Name dieser Frau jetzt hier auf diesen Rollen steht. Im letzten Moment und mit viel Engagement wurde doch noch ein Angehöriger gefunden.

Wir kennen den Lebensweg der Namenslosen auf diesen Rollen nicht, sagt Stadtsuperintendent Hans- Martin Heinemann, der für den evangelisch- lutherischen Stadtkirchenverband Hannover gekommen ist. Aber wenn wir genau hinschauen, kennen wir auch den Lebensweg unserer Nachbarn kaum. Es sei wichtig, sich dieser Menschen zu erinnern. Jeder Mensch ist ein Goldschatz. Es ist ein wunderbarer Glaube, dass auch das Rätselhafte in Gottes Hand liegt, sagt er. Tina Huygha sitzt in einer der Kirchenbänke und hört aufmerksam zu. Die 57- Jährige und ihr Lebensgefährte Herbert Schulze, der seit einem Schlaganfall vor 12 Jahren im Rollstuhl sitzt und kaum sprechen kann, sind zum dritten Mal in Folge zum kumenischen Trauergottesdienst gekommen.

Tina Huygha zündet gemeinsam mit den anderen Besuchern des Gottesdienstes Kerzen für die Toten an. Tränen laufen ihr über die Wangen. Sie blickt zu Boden, ihre feuerroten Haare bedecken wie ein schützender Vorhang ihr Gesicht. Sie gedenkt den vielen Bekannten, die sie tagtäglich nur ein paar Straßen weiter vor der Neustädter Stadt- und Hofkirche getroffen hat. Und plötzlich waren sie nicht mehr da einer nach dem anderen, sagt sie. Sie hießen Karsten, Olaf oder Claudia. 13 oder 17 von ihnen sind von Amts wegen bestattet worden, so genau kann sie sich nicht erinnern. Karsten kannte sie noch von früher, von der Fachoberschule für Gestaltung. Er hatte sehr dicke Knöchel. Vielleicht war er herzkrank, mutmaßt sie. Wenn sie und ihr zwanzig Jahre älterer Lebensgefährte jemanden ein Jahr lang nicht gesehen, fragt sie in der Szene nach. Irgendjemand in der Obdachlosenszene weiß dann was. Gerade die, die zu lange auf der Straße gelebt haben, merken oft nicht, wenn sie zum Beispiel Diabetes bekommen. Dann könne es schnell gehen.

Sie hat aus den Plakaten für den Gottesdienst eine Verzierung für Herberts Rollstuhlreifen gebastelt. Um auf den Gottesdienst aufmerksam zu machen. Es ist wichtig für uns Zurückgebliebene, dass wir hier im Gottesdienst ein Ritual haben, um zu verstehen, dass diese Menschen weg sind und wir hiermit von ihnen Abschied nehmen, sagt Tina Huygha.

 

Der kumenische Trauergottesdienst findet einmal im Jahr statt. Ausrichter des Gottesdienstes ist die Katholische Kirche in der Region Hannover und der Evangelisch- lutherische Stadtkirchenverband. Unterstützt wird der Trauergottesdienst vom Diakonischem Werk Hannover und dem Caritasverband Hannover. Traditionell findet er im Wechsel entweder in der Basilika St. Clemens oder in der Marktkirche statt.

Marie Kleine