Vom Protest in das Supermarktregal

Vor 50 Jahren brachten die Kirchen den fairen Handel nach Deutschland

Vor 50 Jahren begann der Faire Handel – mit Hungermärschen und Kaffee. „Wir haben etwas verändert“, sagt Bärbel Smarsli. Fair-Handels-Aktivistin. Auch eine ganze Stadt.

Deutschland im Frühjahr 1970: In 70 Städten formieren sich evangelische und katholische Jugendorganisationen zu „Hungermärschen“. Sie fordern, dass es endlich gerechte Handelsbeziehungen mit den Ländern der, wie es damals hieß, Dritten Welt geben muss. Über 30??000 Menschen gehen dafür auf die Straße – die bisher größte Solidaritätsaktion für die Länder des globalen Südens.

September 1970: Den Protesten folgen Taten – und die ersten Waren. In Kirchengemeinden wird Kunsthandwerk aus Asien, Afrika und Lateinamerika verkauft. Dann folgt ein Produkt, das heute noch zu den Bestsellern des Fairen Handels zählt: Kaffee. Kein Wunder, schließlich ist Deutschland eine Nation von Kaffeetrinkern. Im Jahr 2019 lag der Pro-Kopf-Konsum bei 166 Litern Kaffee pro Bundesbürger und damit deutlich über dem von Mineral- und Heilwasser, das auf 142 Liter kommt.

Mancher Kaffee des ersten fairen Handels ist aber für europäische Geschmäcker eine Herausforderung: kräftig in Bohne und Röstung. Zum Beispiel Kaffee aus Nicaragua – in Anlehnung an die sandinistische Befreiungsbewegung der 1970er-Jahre nur „Sandinos Dröhnung“ genannt.

An diesen Kaffee kann sich Bärbel Smarsli, Jahrgang 1963, noch gut erinnern: „Das war echt eine Herausforderung, den zu trinken.“ Die Gemeindereferentin aus Garbsen bei Hannover ist Aktivistin in Sachen Fairer Handel. Gleich neben ihrer Wohnung organisiert sie mit einem ökumenischen Team einen Weltladen. Demnächst wird im Nachbarort ein weiterer Weltladen als Außenstelle eröffnet – im ehemaligen katholischen Pfarrbüro.

„Wir wollten anders sein damals“, erinnert sich Bärbel Smarsli: „Wir wollten Menschen, die wir nicht kennen, etwas Gutes tun.“ Die Welt sollte besser gemacht werden. „Für uns in der katholischen Jugend bekam die Vision des Propheten Jesaja großer Bedeutung“, erzählt sie weiter. Die Vision, nach der Gerechtigkeit und Frieden sich küssen. In der Schwerter zu Pflugscharen werden und die Menschen wie Geschwister miteinander leben.

Zu der Vision kommen Teezeremonien, Räucherstäbchen und Seiden-Saris aus Indien: „Die Farben der sogenannten armen Länder hatten für uns eine Faszination.“ Fairer Handel hat für Smarsli etwas mit Beziehung zu tun, mit Interesse an Land und Leuten. Eine Bereicherung für das Leben.

Gerechtigkeit muss immer wieder durchbuchstabiert werden

„Wenn mich aber das Leben der Anderen bereichert, müssen wir Gerechtigkeit immer wieder durchbuchstabieren“, sagt Bärbel Smarsli mit Nachdruck. Im Rahmen der Partnerschaft des Bistums Hildesheim mit der Kirche von Bolivien setzt sie sich für gerechte Handelsbeziehungen ein – politisch und mit Blick auf ein konkretes Produkt: den Café Bolivia.

Geschmacklich hat der Partnerschaftskaffee nichts mit „Sandinos Dröhnung“ gemein. Milde Bohne, mildes Aroma. Aber was die Lieferkette betrifft schon: Von der Bohne bis zum Verkauf alles fair: „Das garantieren wir den Kaffeebäuerinnen und den Kaffeebauern.“ So werden sie vor Spekulationsgeschäften geschützt, die die Preisspirale für Händler hoch, den Ertrag für die Produzenten aber nach unten schrauben. „Hier ist fair geglückt“, sagt Bärbel Smarsli. Denn die Beziehungen zu den beiden Kooperativen, die den Partnerschaftskaffee ökologisch anbauen, sind eng: „Wir kennen sie, sie kennen uns.“ Fairer Handel ist eine Sache von Vertrauen – und von Garantie: „Es ist ein Weg aus der Armut, zu mehr Bildung und damit zu deutlich besseren Lebenschancen.“ Das macht der Café Bolivia möglich.

Bärbel Smarsli denkt an die Anfänge zurück, als sie als Jugendliche mit einigen Paketen Kaffee nach dem Gottesdienst vor der Kirche stand: „Natürlich haben viele deshalb etwas gekauft, weil dort die eigenen Jugendlichen standen.“ Aber aus diesen vielen kleinen Aktionen ist etwas Großes geworden: „Der Faire Handel hat den Weg in die Regale der Supermärkte gefunden.“ Zwar als Nischenprodukt, aber immerhin: „Wir haben wirklich etwas verändert.“

Aus Vereinen werden Unternehmen mit Umsätzen in Millionenhöhe

So gründet beispielsweise der „Ökumenische Arbeitskreis Entwicklungshilfe“ im Landkreis Hildesheim 1972 den Verein „El Puente“ – heute ein Unternehmen in Sachen fairer Handel mit einem Umsatz von zehn Millionen Euro. 1975 brachten der Kirchliche Entwicklungsdienst (KED) und Misereor die "GEPA – The Fair Trade Company" ins Laufen. Sie ist heute Europas größtes Fair-Handelsunternehmen mit über 70 Millionen Euro Umsatz. Zwischendrin wird 1973 der erste Weltladen in Stuttgart eröffnet. Ende der 1970er-Jahre sind es bereits 100, heute knapp 900.

Einer davon ist in Garbsen. Und in dessen Mitte steht Bärbel Smarsli. Kaffee, Tee, Schokolade, Fruchtgummi, Honig, Senf, Gewürze, Nudeln, Bulgur und Quinoa. Dazu ein wenig Kunsthandwerk, Kleidung und Schmuck. „Klassisches Angebot“, sagt Bärbel Smarsli. Auch Weltläden unterliegen Angebot und Nachfrage.

Aber es ist mehr möglich: Angestoßen von der evangelischen und unterstützt von der katholischen Kirche konnten zunächst die örtliche SPD und dann Rat und Verwaltung überzeugt werden, dass Garbsen eine „Fair-Trade-Stadt“ werden soll. 2014 war es soweit. Somit ist der Einsatz für gerechte Preise und damit für verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen in Entwicklungsländern jetzt Sache der städtischen Politik. Die Stadt Garbsen hat inzwischen ihren eigenen Kaffee, die „Faire Bohne Garbsen“. Die Bohnen dazu kommen aus den gleichen Kooperativen wie beim Café Bolivia: „Wir konnten die Stadt damit überzeugen, weil es eine komplett faire Angelegenheit ist“, sagt Bärbel Smarsli.

Auch die Geschenkkörbe, die die Stadt zu runden Geburtstagen verschenkt, kommen aus dem fairen Laden. Werbung für das Geschäft, vor allem aber für die Idee, die den Weltladen trägt: Gerechtigkeit, Interesse am Nächsten, auch wenn er oder sie weit weg lebt.

„Natürlich muss der Faire Handel noch weiter raus aus seiner Nische“, meint Smarsli. Politisch gehöre dazu, dass grundsätzlich die Lieferketten von Produkten gerechte Arbeitsbedingungen und nachhaltigen Anbau garantieren müssen. Der Transport von fairen Waren könne auch ökologischer werden. Erstmals wurde nun fairer Kaffee mit einem Segelschiff nach Europa gebracht. "Eine gute Idee", findet Bärbel Smarsli. Alles große, wichtige Ziele. Es bleibe viel zu tun. Dennoch: „Vom Hungermarsch in die Regale – wir haben da wirklich was erreicht.“

Rüdiger Wala