Auf Messer und Gabel

Etwas Warmes braucht der Mensch, heißt es. Doch für manche reicht das Geld nicht. Sie erhalten eine Mahlzeit in Suppenküchen wie der Ökumenischen Essensausgabe in Hannover. Manchmal erzählen sie auch ihre Geschichte dazu.

Es ist viertel vor elf. Die Traube von Menschen vor der Reformierten Kirche in der Innenstadt von Hannover wird größer. Habseligkeiten in großen Plastiktaschen, oder im Einkaufwagen, drei Rollatoren, zwei Rollstühle. Klapprige Fahrräder werden auf den Vorplatz geschoben. Immer noch reihen sich Menschen aus der unmittelbar vor der Kirche liegenden U-Bahn-Station in die Schlange ein.

15 Minuten noch dann öffnet die kumenische Essensausgabe ihre Türen. Ursprünglich war sie von der Katholischen und evangelischen Kirche und der Diakonie als Winterhilfe für Obdachlose gedacht (zur Geschichte der Essensausgabe siehe "Immer mehr kommen zum Essen"). Doch längst nicht alle, die etwas Warmes im Bauch haben möchten, sind wohnungslos oder leben gar auf der Straße.  Bei manchen fehlt schlicht das Geld, wenn Miete, Strom und Gas bezahlt sind.

So wie bei Norbert. 63 Jahre ist er alt und arbeitslos. "Nein, eine Ausbildung habe ich nicht", erzählt er zwischen zwei Bissen Schweinegeschnetzeltes mit Reis: "Ich habe mich immer so durchgeschlagen." Durchschlagen heißt nicht, dass er sich vor Arbeit gedrückt und dem Staat auf der Tasche gelegen hat, wie es so schön heißt. "Nee nee, ich habe viel gearbeitet." Und was? "Erst so Jobs, die mir angeboten wurden." Mal dies, mal das. Mal wenige Wochen, mal länger.

Dann viele Jahre in der Gebäudereinigung. Monotone belastende Arbeit, zerrissene Tage entweder ganz früh beginnen oder spät aufhören. Immer wieder die gleichen Handgriffe, immer wieder die gleichen Gelenke belastet: "Schultern, Hände, Hüften, Knie tut alles weh", sagt Norbert. Er isst langsam, wohl wegen der Schmerzen.

Die Reinigungsmittel hat er immer noch in der Nase: "Scharfe Sachen waren dabei." Schädlich für die Gesundheit? Norbert zuckt mit den Schultern. Im Laufe der Jahre sei der Job noch härter geworden. Immer weniger Zeit für die gleiche Putzarbeit: "Strengen Sie sich mehr an, hieß es da", erzählt Norbert. Er strengte sich an bis es eben nicht mehr ging. Waren alle Abrechnungen korrekt? Wieder zuckt Norbert mit den Schultern. Weiß nicht.

Am Rand von Hannover hat er heute eine kleine Wohnung. "Picobello", sagt er. Aber die Decke die soll ihm nicht auf den Kopf fallen. Deshalb fährt er fast jeden Tag in die Stadt. Frühstück bei der Caritas, Mittag bei der Essensausgabe. Schont den schmalen Geldbeutel, hilft auch gegen Einsamkeit. "Kenne viele Leute hier", meint Norbert. Und geht sich einen Kaffee holen.

"Ein Schmelztiegel der Armut ist das hier"

Dabei nickt er Dorothea zu. Eigentlich will sie nichts erzählen: "Wen interessiert das schon? Mein Leben lang hat das niemanden interessiert." Verbitterung mischt sich in ihr Essen. "Über 70" grummelt sie auf die Frage nach ihrem Alter. "Besatzungskind", schiebt sie hinterher. Vater ein belgischer Soldat. "War nicht gut, auf'm Dorf, für meine Mutter und mich." Mehr will sie dazu nicht erzählen. Der Tonfall aber, der Blick sprechen Bände.

Vom schlechten Start ins Leben hat sie sich nie erholt. Gearbeitet ja, immer mal was, mal wieder nichts. Wie Norbert. Dann lange ihre Mutter gepflegt, bis zur Selbstaufgabe: "Und vom Staat gab es auch kaum was." Die Wohnung klein, die Rente schmal. Etwas Warmes gibt es für sie im Winter eigentlich nur bei der Essenausgabe. "Ein Schmelztiegel der Armut ist das hier", sagt sie.

Andreas bestätigt den Eindruck: Alkoholkranke, Drogensüchtige, ehemalige Strafgefangene, Sexarbeiterinnen, Leute mit ganz wenig Geld, mehr und mehr alte Frauen – alles trifft sich hier. Er selbst ist 58 Jahre alt, ehemals freiberuflicher Handelsvertreter. Eher auf der sonnigeren Seite des Lebens. Bis seine Mutter pflegebedürftig wurde. Zehn Jahre hat er sich um sie gekümmert. Im letzten Jahr ist sie verstorben mit über 80: "Ich trauere immer noch." Sein Vater ist bereits seit 30 Jahren tot. Weitere entfernte Verwandte gibt es nur in Australien.

Mit 58 Jahren bin ich nicht mehr vermittelbar

"Die Pflege der Mutter war teuer", sagt Andreas nüchtern.  Alles auf der hohen Kante wurde dafür flüssig gemacht: "Manches habe ich erst bezahlt, dann aber nicht alle Kosten erstattet bekommen." Die Einteilung in Pflegegrade habe viele Lücken. Und diese Lücken hat Andreas ausgeglichen.

Dabei hat er auch eigene Schicksalsschläge verkraften müssen. Seine Verlobte ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Das liegt zwar Jahre zurück – aber Andreas stockt einen Moment.

Seine Zukunftsaussichten? "Die sind trübe", sagt er wieder sehr gefasst, fast schon, als ob er über eine andere Person sprechen würde: "Mit 58 bin ich auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar." Das sei ihm im Jobcenter auch deutlich gemacht worden. Rente? "Ich werde irgendwann von 325 Euro leben müssen." Wieder klingt er sehr gefasst: "Als Freiberuflicher habe ich vieles vorfinanziert, da blieb nichts über, was ich für die Rente hätte zur Seite legen können."

In der Saison isst er an jedem Öffungstag hier, seit mehreren Jahren schon: "Genau kann ich Ihnen das nicht sagen, aber es entlastet natürlich finanziell." Er weiß, dass es vielen anderen im Raum ebenso geht wie ihm: Man kennt sich ja ein bisschen. Und man kennt auch die, die im Laufe der Jahre nicht mehr kommen: "Die sind gestorben".

Marika ist 20 Jahre jünger als Andreas. Sie stammt aus einer Sinti-Familie, kommt gebürtig aus Dithmarschen: "Ein Jahr lang war ich in Hannover obdachlos, das war furchtbar." Und das eigentlich der Liebe wegen. Ihr Freund kommt aus Palästina, hat in Deutschland um Asyl ersucht und lebt in einer Unterkunft für Asylbewerber: "Da konnte ich nur heimlich rein."

So weitergehen konnte das nicht: "Ich bin zurück nach Hause." Dort hat sie Hilfe bei der "Brücke" gefunden, einer Organisation, die sich speziell um Frauen kümmert: "Seit November habe ich eine Ein-Zimmer-Wohnung und hoffe, dass irgendwann auch mein Freund nachkommen kann."

Vielleicht deutet sich über die Brücke eine berufliche Perspektive an, hofft  Marika. Sie hat mal Schneiderin gelernt, kämpft aber seit Jahren mit Schüben von Multipler Sklerose. Ihren Glauben hat sie aber nicht verloren: "Nein, Gott mache ich dafür nicht verantwortlich."

Die ökumenische Essenausgabe: Bis zu 300 Essen und warme Getränke gibt die ökumenische Essensausgabe in Hannover an jedem Öffnungstag kostenlos an Gäste aus. Für konkrete Hilfestellungen steht während der ffnungzeiten (Montag bis Freitag, 11 bis 13 Uhr) eine Sozialarbeiterin zur Verfügung. Getragen wird die Essenausgabe von ehrenamtliche Mitarbeiter*innen. Sie verteilen die Mahlzeiten, sorgen für eine wohltuende Atmosphäre, spülen Teller und Tassen und haben für die Besucher*innen ein ofenes Ohr.

Die Essensausgabe finanziert sich über Kollekten der beteiligten Kirchengemeinden und Spenden. Für Zuwendungen: Kath. Kirchengemeinde St. heinrich, Kirchort St. Clemens; Volksbank Hannover IBAN DE39 2519 0001 0015 3699 00; BIC VOHADE2HXXX. Wichtig: Stichwort "Essenausgabe".

  • Kontakt: Zentrale Beratungsstelle für Personen in besonderen sozialen Schwierigkeiten, Telefon: (0511) 990 400 oder E-Mail: essenausgabe@zbs-hannover.de.

Rüdiger Wala