Beten mit Händen und Füßen

Über den "Geist, der in uns atmet"

Fünf Buchstaben. Ein kurzes Wort und doch von so großer Bedeutung. Beten. Gott suchen – das geht im Stillen in einer Kirche. Oder in Bewegung beim Pilgern. Oder in beidem, zeigt ein Beispiel aus der Pfarrei Hl. Engel in Hannover.

„Eigentlich haben wir nur gedacht: Corona braucht mehr Gebet“, erzählt Birgitta Brauner. Die 56-jährige Physiotherapeutin gehört zu einer Gruppe von Engagierten in der Pfarrei Hl. Engel im Hannoverschen Stadtteil Kirchrode, die sich genau darüber Gedanken gemacht hat. Die Pandemie ist eine stete Herausforderung. Nicht nur was den Verlust von Nähe und gewohntem Alltag betrifft. Sondern Krisen sind immer eine Anfrage an den Glauben, an Gott.

Dazu kam eine zweite Erfahrung: „Eine Zeit lang konnten wir keine Gottesdienste feiern, da hat sich eine Sehnsucht nach der Eucharistie entwickelt“, beschreibt es Birgitta Brauner. So entstand die Idee eine klassische Gebetsform anzubieten: die eucharistische Anbetung.

„Herr, auf dich vertraue ich, in deine Hände lege ich mein Leben“ – so wird jeden Donnerstag in der Pfarrkirche gebetet. Birgitta Brauner hat zuvor eine große Hostie aus dem Tabernakel geholt und in die Monstranz, das Zeigegefäß, eingesetzt. Das Allerheiligste steht auf dem Altar, von Kerzen beleuchtet. Chris­tus wird angerufen, ein Lied nicht gesungen, sondern gebetet. Ansonsten ist es still. Verweilen vor dem Herrn, Fragen oder Bitten vorbringen. Gott suchen in der Ruhe einer Kirche.

„Wir sind eine kleine Gruppe, die zur Anbetung zusammenkommt“, berichtet Birgitta Brauner. Mal zehn, mal 16, in unterschiedlicher Besetzung. Sie genießt diese Momente der Stille – und wundert sich ein bisschen über sich selbst: „Als Jugendliche hätte ich es mir nie vorstellen können, so was mal zu machen.“

Der ganze Körper wird zum Kreuzzeichen

Doch das stille Falten der Hände, der Blick ins eigene Innere ist für Birgitta Brauner nicht der einzige Weg Gott zu suchen. Beten – das geht auch mit den Füßen und dem ganzen Körper. Als die Infektionsschutz-Maßnahmen es noch möglich machten, hat sie zu kleinen Andachten eingeladen. Morgens, vor der Kirche, an der frischen Luft.

Im großen Kreis hat sich eine kleine Gruppe versammelt. Das Kreuzzeichen zu Beginn wird nicht fast verschämt mit den Händen angedeutet. Es erfasst den ganzen Körper, der selbst mit ausgestreckten Armen zum Kreuzzeichen wird. Hinter der Maske werden leise Kanons gesungen – „Wo zwei oder drei ...“. Eine kurze Lesung, ein Impuls, wieder ein Kanon, wieder mit raumgreifenden Bewegungen. Zum Lobe Gottes werden die eigenen Sorgen tief zum Boden abgeworfen, damit der Körper sich aufrichten kann. Bewegung als Gebet.

Nach dem Körper folgen die Füße. Birgitta Brauner lädt zu einem kleinen Spaziergang ein. Immer zu zweit, immer mit Abstand, immer mit Maske. Aber nicht still. Sondern im Gespräch über eine Frage: „Wo ist mir Jesus schon mal begegnet?“

Viktor Schneider muss nicht lange darüber nachdenken. „Jesus ist doch überall“, sagt der 71-Jährige auf dem Weg: „Wir müssen doch bloß die Augen aufmachen.“ In seine Antwort mischt sich seine Lebensgeschichte. Viele Jahre hat er mit seiner Frau Katharina im russischen Sibirien gelebt, seit 24 Jahren ist er in Deutschland. Beten war über Jahrzehnte etwas, das nur im Geheimen getan werden konnte.

Seine Frau und er sind es gewohnt draußen zu sein. Corona ist da eine große Einschränkung. Es fehlt an Begegnung. Schnell fällt die eigene Wohnungsdecke auf den Kopf. Hier sehe man vertraute Gesichter, für beide ein „wunderbares Gefühl von Gemeinschaft“. So wichtig in diesen Zeiten. „Die Andacht vor der Kirche ist ein schöner Impuls, der uns den ganzen Tag begleiten wird“, ergänzt die 69-jährige Katharina Schneider.

Ein Kreis wird gebildet, Fürbitten frei gesprochen

Mittlerweile hat der Spaziergang sein Ziel erreicht: St. Maria Angelica, die Pfarrkirche der alt-katholischen Gemeinde. „Unser Ziel sind jeweils die anderen Kirchen im Stadtteil“, erläutert Birgitta Brauner. Ökumene kann so erlaufen werden. Wieder wird ein Kreis gebildet. Ein Kanon leise gesungen, Fürbitten frei gesprochen, zum Abschluss ein Vaterunser gebetet. Gottsuche mit den Füßen.

„Natürlich kommen die, die uns eng verbunden sind“, weiß Birgitta Brauner. Gemeindemitglieder, die sich beim Beten vor dem Allerheiligsten in der Kirche Hl. Engel so zu Hause fühlen, dass sie wie selbstverständlich das Gotteslob mitbringen. Oder Rentner oder Mütter wie Großmütter mit Kindern und Enkeln, die den Spaziergang mit Impulsen schätzen: „Da ist niemand dabei, der auf der Suche nach Sinn im Leben ist und bei uns als Kirche landet.“ Doch die Sehnsucht nach etwas, das Orientierung im eigenen Leben schafft ist groß.

Diese Erfahrung hat Birgitta Brauner in ihrer Arbeit als Physiotherapeutin gemacht. Sie betreut dabei unter anderem eine Nordic-Walking-Gruppe. Natürlich stehe da die Bewegung, die Motorik im Vordergrund. Aber auch da gebe sie Impulse, die Nachdenken und Gespräch während des Walkens anregen sollen: „Das gehört zusammen.“ Körper und Geist. Beim Spaziergang von Kirche zu Kirche sei das ähnlich. Nur andersherum: „Hier stehen sie Impulse im Vordergrund, verbunden mit Bewegung.“

Aber ob nun mit gefalteten Händen oder bewegten Füßen, ob nun frei formuliert oder in gelernter Form: Es geht um die Suche nach Orientierung. Eine Suche mit einer Begleitung, die über Alltäglichkeit hinausgeht. Etwas, das größer ist als die eigene Vorstellungskraft. Das meint das Wort Spiritualität – übersetzt: „der Geist, der in uns atmet.“ Fünf Buchstaben. Ein kurzes Wort und doch von so großer Bedeutung. Beten. Das ist nicht nur etwas Christliches. Beten – das prägt alle Weltreligionen. Beten ist handfeste Spiritualität. Reden mit Gott. Reden mit einem Freund . Ob mit Händen oder Füßen.

Rüdiger Wala