Denkanstöße für eine andere Kirche

Die Spätmesse in der Basilika St. Clemens in Hannover

Ein Abschied in Dank und Trauer: Fast ein Vierteljahrhundert hat die „Spätmesse“ in der Basilika St. Clemens in Hannover für eine geschwisterliche Kirche gebetet, gesungen und Mahl gehalten. Nun geht es nicht mehr weiter.

„Macht die Fenster der Kirche weit auf“: Über 60 Jahre ist dieser Ruf alt, verbunden ist er mit Papst Johannes XXIII. und seinem "aggiornamento", eine Wiederannäherung der Kirche an die Erfordernisse der Zeit. Fast 25 Jahre hat die Stadtgemeinde Johannes XXIII. jeden Sonntag um 11.30 Uhr dieses Fenster aufgestoßen – mit der Spätmesse in der Basilika St. Clemens. Doch hat das zuletzt fünfköpfige Team jetzt in Dankbarkeit Abschied genommen.

Der Anlass dafür ist denkbar einfach: „Unsere Kräfte und zeitlichen Möglichkeiten reichen einfach nicht mehr aus“, sagt Rainer Stein, einer der Organisatoren: „Wir sind überwiegend erwerbstätig, der Aufwand für Planung, Vorbereitung und Durchführung der Spätmessen ist für uns nicht mehr zu schaffen.“ Die besonderen Infektionsschutz- und Hygieneauflagen durch die Corona-Pandemie kämen dabei noch hinzu.

Seit 2017 hatte sich der Versicherungsberater zusammen mit Ilona Esz, Markus Leibold, Birgit Richter und Rita-Maria Scholz-Behrens um die Organisation der Spätmesse gekümmert. „Die Liste, was für einen Gottesdienst gemacht werden muss, ist zum ziemlich lang.“ Dazu gehört, dass es keinen „festen“ Priester gibt, der Zelebrant wechselt. Die Lesungen müssen abgestimmt werden, die Liedauswahl, die Fürbitten, die etwas andere liturgische Gestaltung – und dann müssen auch noch die gefunden werden, die als Kantor*innen, Organist*innen, Kommunionhelfer oder Lektor*innen dabei sind: „Wir waren natürlich darauf angewiesen, dass sich Mitwirkende finden.“

Gesellschaftliche und kirchenpolitische Entwicklungen

Für Rita-Maria Scholz-Behrens ist die letzte Spätmesse ein besonderer Abschied. Die Religionslehrerin und Theologin hat die Initiative 1997 ins Leben gerufen – unter anderem zusammen mit dem Journalisten Peter Hertel und dem Initiator der KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche im Bistum Hildesheim, Peter Sutor. „Es gab zu diesem Zeitpunkt eine Sehnsucht nach Gottesdiensten mit Denkanregungen“, erinnert sich Scholz-Behrens. Zuvor hatte eine Hochschulmesse um 11.15 Uhr ein ähnliches Angebot gemacht. Doch verlagerte sich dieser Gottesdienst in die Abendstunden und wird heute noch um 19.15 Uhr in der Basilika St. Clemens gefeiert.

Die Stadtgemeinde übernahm die Möglichkeit, um 11.30 Uhr Gottesdienst zu feiern – die Spätmesse. Sie setzte um, was ihr selbst gewählter Patron vorweggenommen hat: Die Fenster der Kirche zu öffnen. In der Liturgie sollen bewusst gesellschaftliche und auch politische Entwicklungen einbezogen werden. „Es gibt ja immer wieder Entwicklungen in unserer Kirche, die hinter das Zweite Vatikanische Konzil zurückfallen wollen“, meint Scholz-Behrens: das Verhältnis der Katholischen Kirche zur Welt, zur Ökumene, zu den anderen Religionen, die Feier der Liturgie oder die immer noch eingeschränkten Mitwirkungsmöglichkeiten von Frauen seien da Beispiele. Den Gedanken, die Kirche am heute auszurichten – das sei immer eine ihrer Triebfedern gewesen. Es gehe um eine konsequent geschwisterliche Kirche mit einer frohen und nicht mit einer drohenden Botschaft: „Um Denkanstöße für eine andere Kirche.“

Menschen mit diesen Denkanstößen zu erreichen, die eher am Rande von traditionellen Pfarrgemeinden stehen, war eine Absicht der Spätmesse. Akzente setzen dabei in unterschiedlicher Art und Weise die Priester, die die Laieninitiative zum Predigen und Gottesdienstfeiern einlud. „Da waren viele Priester darunter, die eher in anderen Bereichen zu Hause waren als in Pfarreien“, sagt Rainer Stein. Ordenspriester waren darunter, Seelsorger aus dem Krankenhaus, aus Schulen und Hochschulen. Auch der eine oder andere „Paradiesvogel“. Das brachte für Stein nicht nur eine andere Sicht auf theologische oder kirchenpolitische Fragen mit sich: „Das war zudem eine andere Art und Weise der Ansprache.“

Dienste aus der Kirchenbank heraus

Doch es gab noch eine zweite Ansicht der Spätmesse: Menschen zum Mitgestalten der Liturgie zu bewegen: „Viele Laien haben sich kundig gemacht“, stellt Rita-Maria Scholz-Behrens. Kommunionhelfer- und Lektorenkurse wurden besucht, Ausbildungen zur Leitung von Wort-Gottes-Feiern absolviert: „Dieses Bild, dass bei der Spätmesse viele Dienste aus der Bank heraus übernommen wird, hat unsere Feier geprägt.“

Wichtig waren auch besondere liturgische Zeichen, die in der Spätmesse gesetzt wurden: Die Kommunion unter beiderlei Gestalten war eines davon. Fürbitten wurden aus der Gottesdienstgemeinde, die sich vor Corona stabil immer so um die 80 Teilnehmenden gehalten hat, frei formuliert. „Welche Lieder gesungen wurden, war lange Zeit immer eine besondere Diskussion“, meint Scholz-Behrens. Mit dem neuen Gotteslob habe sich da die Debatte etwas entspannt. Aber auch zentrale liturgische Texte wurden hinterfragt und andere Hochgebete genutzt.

„Wir haben auch probiert, wie es ist Wort-Gottes-Feiern am Sonntagvormittag zu begehen“, berichtet Scholz-Behrens. Was kostet an Mühe, was kann so Neues erschlossen werden – das hatte auch etwas von Feldversuch an sich, denn die Frage, wie der Sonntag gefeiert wird, stellt sich für die Kirche immer wieder neu. Gerade in einer Zeit, in der es immer weniger Priester gibt.

Alltag im Glaubensleben einer Stadt

Stichwort Priester: Eine Erfahrung haben sowohl Rainer Stein als auch Rita-Maria Scholz-Behrens gemacht. Es gab Gottesdienstteilnehmende, die aus Ärger über ihre Pfarrei eine Zeitlang die Spätmesse besucht haben – und mach einem Pfarrerwechsel wieder in ihre Heimatgemeinde zurückgekehrt sind. Alltag im Glaubensleben der Großstadt.

Mehrmals im Jahr wurden im Rahmen der Spätmesse besondere Akzente gesetzt. Zum Beispiel durch ein Gemeindefest am Nachmittag: „Das war mit einem Essen verbunden und Referentinnen und Referenten zu kirchenpolitischen oder theologischen Fragestellungen“, erläutert Scholz-Behrens. Gerade rund um die Reichspogromnacht hat die Stadtgemeinde an die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens erinnert – zum Beispiel auch durch hebräische Gesänge oder durch jüdische Musik in der Spätmesse. Mit ökumenischen Dialoggottesdiensten wurden im evangelisch-katholischen Verhältnis Wege zueinander gefunden.

Fast ein Vierteljahrhundert ist nun zu Ende gegangen. Bei Rita-Maria Scholz-Behrens überwiegt Dankbarkeit für diese Zeit, nicht so sehr die Trauer. „Wir haben Menschen erreicht, die sonst nicht zur Kirche gekommen wären“, sagt sie. Die Spätmesse hat schon früh für eine geschwisterliche Kirche geworben, um die heute im Synodalen Weg gerungen wird oder für die Maria 2.0 auf die Straße geht. Scholz-Behrens ist sich sicher: „Das, was die Spätmesse ausgemacht hat, setzt sich fort – nur anders.“

Rüdiger Wala