"Kirchen sind wichtige Orte für gesellschaftspolitische Diskussionen"

Im Gespräch: Konstanze Beckedorf, Kulturdezernentin der Stadt Hannover

Welche Bedeutung haben Kirchengebäude und Kirchen im 21. Jahrhundert? Was können Religionen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten? Und welches Verhältnis besteht zur Stadt und zur Kultur? Im Gespräch: Konstanze Beckedorf, Kulturdezernentin der Stadt Hannover.

Auf einem Symposium der Volkswagenstiftung mit dem Titel "reusing churches" wurde Anfang dieses Jahres die These aufgestellt, dass Kirchen wichtige, öffentliche Orte in den Städten sind. Wie sehen Sie das? Welche Bedeutung haben Kirchengebäude und Kirchen im 21. Jahrhundert?

Es ist wenige Wochen her, da wurde über die Kirchenaustritte in den christlichen Kirchen berichtet. Ich nehme für die Landeshauptstadt das Patronat in der evangelisch-lutherischen Marktkirche wahr. Insofern sind diese Zahlen für mich ein wichtiges, ein hautnahes Thema. Angesicht dieser Zahlen muss man sich tatsächlich die Frage stellen, ob Kirche wirklich noch Bedeutung hat.

Und? Hat sie?

Aus meiner Sicht hat sie das – und zwar in besonderem Maße, nicht nur für eine Stadt wie Hannover, sondern für die ganze Gesellschaft. Kirchen sind auch im 21. Jahrhundert Orte des Zusammenhalts, verbunden mit einem hohen sozialen Anspruch. Religion kann Menschen auch und gerade in Krisensituationen Halt geben. Das haben wir trotz aller Schwierigkeiten in der Corona-Pandemie gesehen. Religion und Kirche haben immer noch starke Wurzeln in der Gesellschaft.

Woran machen Sie das fest?

Kirchen sind im Bild einer Stadt stets sehr präsent. Das gilt auch für Hannover. Sie sind deshalb aus meiner Sicht wichtige Orte für gesellschaftspolitische Diskussionen. Menschen kommen zusammen, gehen ihrer Religion nach, tauschen sich aus zu den Fragen, die eine Stadt oder ihren Stadtteil bewegen. Das macht Kirche allein als Ort wichtig. Wir merken das manchmal erst, wenn eine Kirche nicht mehr da ist, weil sie entwidmet oder sogar abgerissen wurde. Und mit dem fehlenden Ort geht auch das Gespräch über die Stadtgesellschaft verloren. Deshalb halte ich Kirchen nach wie vor für unverzichtbar.

Städte entwickeln sich. Stadtteile verändern ihr Gesicht, neue Stadtteile werden geplant und gebaut. Sind Kirchen da so etwas wie Ankerpunkte?

Sie haben eine besondere Funktion – für die Religion, aber natürlich auch für das Leben im Stadtteil. Es sind Orte der Besinnung, der Ruhe, der Kontemplation, der Auseinandersetzung mit dem Glauben, die aber nie auf die Konfession allein beschränkt sind. Denn Kirchen sind auch Orte für Kunst und Kultur, für soziale und politische Fragen. Das war mir persönlich nicht immer so klar. Als junge Kirchgängerin habe ich mir bei Predigten, die sehr politisch wurden, gesagt: Das ist doch nicht der Auftrag von Kirche. Bis mir dann irgendwann mal klar wurde: Gerade in der Religion steckt ganz viel Politisches und es ist sehr wohl der Auftrag von Kirche Position zu beziehen zu politischen Themen.

Sie haben ja schon gesagt, dass Sie für die Stadt Hannover das Patronat in der Marktkirche wahrnehmen. Das zeigt ja die enge Verbundenheit zwischen der Stadt Hannover und der evangelischen Kirche. Ist Hannover eine zutiefst evangelische Stadt? Oder nehmen Sie auch katholische Duftmarken wahr?

Ganz ehrlich: In Hannover gibt es nicht nur evangelische, nicht nur katholische, sondern multireligiöse Duftmarken. Hier leben Menschen aus 180 Nationen mit an die 100 unterschiedlichen Sprachen zusammen. Als ich noch Sozialdezernentin war, haben wir das mal ermittelt. Diese unterschiedlichen Nationen werden auch durch so vielfältige Religionen und Religionsgemeinschaften dokumentiert, dass ich mich nicht mehr darauf beschränken möchte, hier in den Kategorien evangelisch und katholisch zu denken.

Das heißt, eine internationale Stadt braucht einen interreligiösen Dialog?

Ja – und dafür steht Hannover, nicht zuletzt dokumentiert durch das Haus der Religionen: Eine bundesweit immer noch einmalige Einrichtung, die als Ort des Zusammenkommens für alle Religionsgemeinschaften steht und bewusst als Bildungseinrichtung konzipiert ist. Oder ich denke an die Marktkirche, in der immer wieder die führenden Köpfe der jüdischen, der muslimischen Gemeinden und aller religiösen Gemeinschaften das Gespräch und das Gebet suchen. Ein weiteres Beispiel ist das interreligiöse Weihnachtsfest. Aber all das zeigt auch: Evangelische und Katholische Kirche werden als Christenheit wahrgenommen. Es braucht diesen deutlichen ökumenischen Schulterschluss.

Blicken wir aber mal in die Geschichte Hannovers, denn Kultur und Religion haben in einer ehemaligen Residenzstadt viel damit zu tun. Zum Beispiel mit der Pracht der Kolonien. Aber wo kommt die Kunst her, die in Hannoverschen Museen oder im Stadtbild als begehbare, sichtbare Kultur ausgestellt wird? Welche Bedeutung hat die Frage der Herkunft, der sogenannten Provenienzforschung?

Die Bedeutung der Provenienzforschung wird immer größer. Begonnen haben wir mit dem Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus. Doch auch unsere koloniale Vergangenheit rückt immer mehr in den Blickpunkt. Eine große Anzahl von Kolleg*innen beschäftigt sich damit, die Herkunft von Kunstwerken zu klären. Wir haben auch schon Werke an Erben verfolgter und ermordeter Menschen zurückgegeben. Das haben wir in entsprechenden Publikationen und in mehreren Ausstellungen zum Thema gemacht. Das betrifft auch Kunstwerke im öffentlichen Raum und die Benennung von Straßen und Plätzen. Wir möchten darüber eine intensive Diskussion in den Stadtteilen, wie wir überhaupt die Debatte über Kultur im umfassenden Sinn mit den Bürger*innen führen möchten. So wie wir das in unserem Kulturentwicklungsplan darlegt haben.

Um den Hinweis auf den Kulturentwicklungsplan aufzunehmen: Sie wollen mit diesem bis in das Jahr 2030 angelegten Vorhaben Kultur als gesellschaftsverbindendes Element konkret in die Stadtteile bringen – und nicht als abstrakte Diskussion über Kunst oder philosophische Fragen. Welche Rolle würden Sie dabei bei den Kirchen sehen?

Das ist richtig. Abstrakt die Diskussionen in die Stadtteile zu tragen, funktioniert nicht. Wir haben im Kulturentwicklungsplan Ziele, Maßnahmen, Leuchtturmprojekte definiert. Wir werden uns Schritt für Schritt konkrete Projekte vornehmen. Ein herausragendes Thema im Entwicklungsplan ist die kulturelle Teilhabe – Zugänge zur Kultur schaffen. Deshalb nehmen wir mit als erstes die Stadtteilzentren in den Blick. Wir müssen dazu neue Wege der Beteiligung gehen. Wie das konkret aussehen wird, werden wir noch sehen. Wenn ich aber an unsere Bewerbung zur Kulturhauptstadt zurückdenke, bin ich mir sicher: Wir können das. Das war eine sehr breit aufgestellte Beteiligung, an der sich auch die Kirchen ganz hervorragend eingebracht haben. Die Stadtteile sind die Orte, in denen die Menschen zuvorderst leben, in denen der Alltag stattfindet. Das wollen wir mit den Menschen gestalten und auch gemeinsam mit den Kirchen, weil sie – das habe ich schon deutlich gemacht – wichtige Orte des gesellschaftlichen Miteinanders sind.

Sie haben vor kurzem an einem digitalen Kamingespräch mit Bischof Heiner Wilmer teilgenommen. Im Rahmen seines Pastoralbesuches in Hannover hat er mit Kulturschaffenden und Kulturverantwortlichen zwei Fragestellungen diskutiert haben. Die eine: die Situation von Künstler*innen in der Pandemie. Wie haben Sie die Situation wahrgenommen?

Zum einen: Die Kulturschaffenden hat die Pandemie besonders hart getroffen. Natürlich haben auch andere gesellschaftliche und wirtschaftliche Bereiche gelitten. Aber schaut man genau hin, war der Kulturbereich der letzte, der aus dem Lockdown entlassen wurde und er könnte der erste sein, der bei steigender Inzidenz wieder Restriktionen unterliegt. Hier weiter Kulturschaffende zu unterstützen, ist eine wichtige Aufgabe von uns allen, die wir Verantwortung für den gesamten Kunst- und Kulturbetrieb tragen. Nicht zuletzt, weil es noch eine ganze Weile dauern wird, bis wir im Kulturbetrieb wieder von „Normalität“ sprechen können und wir ohne Einschränkungen beispielsweise Konzerte besuchen können. Zum anderen: Die Pandemie hat auch Kreatives ausgelöst, digitale Formate beispielsweise, die ich mir so nicht hätte vorstellen können. Aber diese Formate haben ihre Grenzen.

Der andere Aspekt im Kamingespräch war die Frage der Bedeutung von Kultur über den reinen Unterhaltungswert hinaus …

Genau das war wirklich wichtig: Über Kunst können wir gesellschaftliche Themen diskutieren. Kultur macht solche Auseinandersetzungen über Fragen, die über den Alltag hinausgehen, so bemerkenswert anschaulich. Da werden auch Aspekte thematisiert, die mit der Pandemie schärfer sichtbarer geworden sind: Wie wollen wir zukünftig in dieser Stadt zusammenleben? Wie steht es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Und wie steht es aus Ihrer Sicht darum? Tun die Kirchen genug dafür – auch und gerade in der Pandemie?

Zu Ihrer letzten Frage: Ich sage das natürlich mit meiner Brille und mit dem Blick auf meine Kirche, auf die evangelische Kirche. Es hätte sicher mehr sein können. Zeitweise hatte ich den Eindruck, dass man sich nicht auf die Pandemie eingestellt hat. Erst mit der Zeit gab es aktive, kreative Ideen, wie der Kontakt zu den Mitgliedern gehalten werden kann – und darüber hinaus. Deshalb ist die Diskussion, ob und wie die Kirchen ihre Rolle in so einer Krisensituation ausfüllen so wichtig. Schließlich geht es dabei um Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Dieser gesellschaftliche Zusammenhalt ist Ihrer Ansicht nach bedroht?

Die Pandemie verstärkt Tendenzen des Auseinanderdriftens – zwischen Bevölkerungsgruppen oder in den Stadtteilen. Deshalb setzen wir als Stadt auf Beteiligung. Wir müssen die über eine halbe Million Menschen, die in der Stadt leben, direkt ansprechen. Egal welcher Herkunft, egal welcher Nationalität, egal welcher gesellschaftlichen Gruppe sie angehören: Wir müssen die Idee, wie wir in Hannover zusammenleben wollen, gemeinsam entwickeln. Das ist nicht einfach und das wird auch viele Kontroversen mit sich bringen. Da brauchen wir die Kirchen und Religionsgemeinschaften – als natürlich auch kritische Partnerinnen, mit denen wir gute Rahmenbedingungen für das Zusammenleben hier in Hannover schaffen können.

Interview: Rüdiger Wala