Von Integration und Pusteln

Ein Gespräch zwischen Regionspräsident Hauke Jagau und Propst Martin Tenge

Alles geregelt? Fast jede Frage zwischen Staat und Kirche ist in Verträgen geregelt. Muss man dann noch miteinander reden? Das haben in Hannover Regionspräsident Hauke Jagau und Propst Martin Tenge getan. Vor allem über Symbole.

Da brandet Beifall auf unter den gut 70 Zuhörern: "Da kriege ich Hals, da kriege ich Pusteln", empört sich Hauke Jagau. Der Sozialdemokrat ist Präsident der Region Hannover. Quelle der Empörung des 56-Jährigen: mehrere Entscheidungen von Kitas und Schulen keine Weihnachtslieder im Advent zu singen, aus Rücksicht auf muslimische Kinder oder Schüler. Zuvor hatte Anne-Kathrin Berger, die Moderatorin des Abends im Tagungshaus St. Clemens gefragt, warum anscheinend christliche Symbole mehr und mehr aus der ffentlichkeit verschwinden.
Der Anlass für Jagau, Hals und Pusteln vor Ärger zu bekommen: "Solche Entscheidungen spielen der AfD in die Hände. " Wieder etwas ruhiger: "Der Umgang mit religiösen Symbolen ist immer eine schwierige, eine herausfordernde Angelegenheit, in der oftmals Fingerspitzengefühl gefragt ist jenseits aller vertraglich festgelegten Regelungen."
Das sieht auch Propst Martin Tenge so, als Regionaldechant Repräsentant von über 150000 Katholik*innen in der Region: "Wir leben in einem mittlerweile religiös sehr vielfältig gewordenem Land." An vielen Stellen in der Region Hannover seien Politik und Religionen in einem guten Dialog. Tenge nennt das Haus der Religionen als Beispiel. Sechs Weltreligionen (Bahai, Buddhismus, Christentum, Hinduismus, Islam und Judentum) tragen das Informations- und Begegnungszentrum in der Südstadt von Hannover. Doch Tenge weiß auch, wie schwierig, wie brüchig dieser Dialog oftmals sein kann: "Im Zweifelsfall müssen wir Christen die Größe haben, den christlichen Geist nicht über Symbole, sondern durch unser Leben in die Gesellschaft zu tragen."
Wie viel Fingerspitzengefühl im Umgang mit religiösen Symbolen notwendig ist, zeigt die lange und endlose Debatte um das Tragen eines Kopftuches von muslimischen Frauen. Jagau, auch Chef einer 3500 Mitarbeiter*innen zählenden öffentlichen Verwaltung ist nach eigenen Worten durchaus hin- und hergerissen zwischen Religionsausübung und Freiheitswert. Ein Verbot des Kopftuches, zum Beispiel im öffentlichen Dienst, wäre eine zu einfache Lösung, die den wichtigen Wert der Glaubensfreiheit angreife. Gleichzeitig kann es auch ein Symbol der Unterdrückung von Frauen sein.
Auch Tenge rät zu einer differenzierten Betrachtung von religiösen Symbolen oder Handlungen: "Was in einer offenen, demokratischen Gesellschaft wie der unseren nicht geht, ist eine Vollverschleierung." Ein freiheitliches Gemeinwesen lebe von Gesicht zeigen. Aber Tenge weiß aus vielen Gesprächen auch um die persönliche Bedeutung, die ein Kopftuch für muslimische Frauen als Ausdruck ihres Glaubens hat.
Der breite Raum, den die Frage nach Symbolen in der Diskussion zwischen Regionspräsident und Propst einnimmt, hat seinen Grund: Der Umgang mit Religion ist eine der Schlüsselfragen für gelingende Integration von Zuwander*innen – und damit für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das gilt sogar innerkatholisch, wie Tenge bemerkt: "Die Zahl der Katholiken wächst in der Region Hannover  – und zwar durch Zuwanderung." Dabei habe er immer wieder eine Erfahrung gemacht: Die Feier des Gottesdienstes in der eigenen, nicht in der deutschen Sprache, ist ein Stabilisierungsfaktor für die Integration.
Bei vielen Fragen das Verhältnis von Staat und Kirche betreffend sind der Regionspräsident und der Propst einer Meinung: Ja, Kirche darf und muss sich sogar in gesellschaftliche Fragen einmischen. "Es wäre komisch, wenn die Kirchen mit ihrem christlichen Menschenbild nicht politisch Stellung beziehen würde", sagt Jagau. "Natürlich müssen wir unsere Gedanken, unsere Meinung einbringen," betont Tenge. Und ja, die Kirchen leisten ein unschätzbaren Wert für die Gesellschaft, mit ihrer Sozialarbeit, ihren Betreuungs- und Bildungseinrichtungen und nicht zuletzt mit dem Einsatz für Menschen, die Schutz und Hilfe brauchen. Jagau möchte kein staatliches Monopol auf Sozialarbeit, Tenge keinen christlichen Alleinvertretungsanspruch – auch wenn an manchen Stellen, in der Pflege ebenso wie in Schulen die finanziellen oder gesetzlichen Rahmenbedingungen besser sein könnten.
Aber in einem unterscheiden sich der Politiker, der noch als Schüler aus der evangelischen Kirche ausgetreten ist und der Propst, der erst spät als Jugendlicher seine Wurzeln in der katholischen Kirche entdeckt hat, doch: In der Frage, macht der Glauben nun das Leben leichter oder schwerer? Jagau, der sich als Agnostiker bezeichnet, sagt: "Der Glaube macht vieles einfacher, weil man einen Grund hat, auf dem man steht."
Widerspruch von Propst Tenge: "Mit Gott zu leben ist nicht einfach, er fordert uns auch ständig heraus." Oder um es mit einem Buchtitel des ernannten Bischofs von Hildesheim, Pater Heiner Wilmer zu sagen: Gott ist nicht nett. Zwar bleibe seine Zusage, immer bei den Menschen zu sein bestehen. Doch die Art und Weise, auch die Gestalt der Kirche verändere sich ständig.

Rüdiger Wala