Mit Goldklumpen auf Streife

Warum Krankenhausselsorge so besonders ist

Jenseits der Apparatemedizin: „Nah bei den Menschen sein“ – das ist vor allem im Krankenhaus möglich. Pfarrer Wolfgang Langer und Pastoralreferentin Susanne Schulze blicken auf ihre Zeit in der Klinikseelsorge zurück. Zwei Aspekte sind für beide wesentlich.

Apparate piepen, Betten und Servierwagen werden geschoben, Patienten untersucht oder für eine Untersuchung an anderer Stelle vorbereitet, Schuhe quietschen schnellen Schrittes auf gereinigten Fußböden – der Alltag im Krankenhaus ist betriebsam, getrieben, hektisch. Da macht es erst einmal keinen Unterschied, ob es sich um ein regional versorgendes Krankenhaus wie das Klinikum Nordstadt in Hannover mit 408 Betten handelt oder um die Medizinische Hochschule Hannover mit über 1500 Betten – die fünftgrößte Universitätsklinik in Deutschland.

Der „Riesenkasten MHH“ war von 2008 an für zwölf Jahre der Arbeitsplatz von Pfarrer Wolfgang Langer: „Ich habe mich da in die Aufgabe reingetastet“, berichtet der 70-Jährige, der jetzt in den Ruhestand gegangen ist. An sein erstes prägendes Erlebnis erinnert er sich wie heute: „Ich war noch keine 14 Tage im Haus, da wurde ich von der Kinderstation zu einer Nottaufe gerufen.“ Langer findet vier Inkubatoren im Krankenzimmer vor, jeder mit vier Zugängen für die Arme: „Da liegt dann ein kleines Wesen Mensch drin, kleiner als ein Kilo Brot, mit Schläuchen und Drähten“. Ein gewöhnungsbedürftiger Anblick.

"So kannst du hier nicht taufen"

„Da war mir schlagartig klar, so wie bisher kannst du hier nicht taufen“, berichtet Langer. Die Krankenpflegerinnen hatten einen Tisch mit Schale und Kerzen vorbereitet, „fast wie ein Hausaltar.“ Langer bezieht die verzweifelten Eltern mit ein. Sie halten Schale und Kerzen, während er mit dem Daumen ins Weihwasser eintaucht und dann das Kind tauft. Gemeinsam wird ein Gebet gesprochen. „Die Taufe hat keine zehn Minuten gedauert, das Gespräch mit den Eltern viel länger“, erzählt Langer weiter. Das Kind, ein Junge, kämpft sich aber ins Leben. Langer gibt der Familie beim Abschied einen Reisesegen mit auf dem Weg. Ein Jahr später folgt ein Anruf: „Die Eltern wollten heiraten und haben mich gefragt, ob ich als Pfarrer mit dazukommen könnte.“ Langer konnte.

„Unser Goldklumpen ist, dass wir als Seelsorgende im Krankenhaus Zeit haben“, unterstreicht Langer. Für ihn ist dabei wichtig geworden, was sich König Salomo im 1. Buch der Könige wünscht: „Ein hörendes Herz, das erhofft sich Salomo von Gott, damit er gut regieren kann.“ Langer übersetzt das als eine „wache Aufmerksamkeit, damit ich wirklich nah bei den Menschen sein kann.“

Wie kurz vor seinem Abschied. Langer hat ein Dreivierteljahr eine Frau begleitet, die mit einer Krebserkrankung immer zwischen Intensiv- und Normalstation hin und her gependelt ist. Immer zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Mittlerweile wurde sie nach Hause entlassen, Langer steht mit ihr und ihrem Mann immer noch in E-Mail-Kontakt. „Sie haben von ihrer goldenen Hochzeit berichtet“, erzählt er. Langer könnte viele Geschichten von solchen Kontakten erzählen – von neuen Hoffnungen oder von letzten Gängen mit den Angehörigen bei Beerdigungen.

„Ich finde es wichtig, dass Kirche für Menschen in Krisen da ist“, sagt auch Susanne Schulze. Die Pastoralreferentin hat insgesamt 28 Jahre in der Klinikseelsorge gearbeitet: zehn Jahre in der Lungenklinik Heidehaus, 18 Jahre im Klinikum Nordstadt in Hannover. „Wir müssen uns da in die Verantwortung nehmen lassen und in Rufbereitschaft sein“, betont sie.

"Wir müssen uns immer in Erinnerung bringen."

Das gelte aber auch für Momente des Abschiednehmens: „Diese Möglichkeit müssen Angehörige bereits in würdevollem Rahmen im Krankenhaus haben – und nicht erst beim Bestatter.“ Schulze musste die schmerzvolle Erfahrung machen, dass der Abschiedsraum in ihrem Klinikum durch die Pathologie umgewidmet wurde. Das mag für Betriebsabläufe in der Klinik nützlich gewesen sein, für Angehörige nicht.

Überhaupt: „Nicht nur die Liegezeiten der Patienten ist deutlich kürzer geworden, es gibt auch weniger ärztliches und pflegendes Personal.“ Das heißt mehr Arbeit in gleicher Zeit, mehr Hektik. Das könne schon dazu führen, dass die Klinikseelsorge unter die Räder von Betriebsamkeit gerät. „Wir müssen uns da auch immer in Erinnerung bringen“, meint Susanne Schulze. Ihr Rezept: „Ich bin auf Streife gegangen.“ Darauf folgte häufig eine Frage der Mitarbeitenden: „Wo ich dich gerade sehe …“ Wenn Zeit der Goldklumpen ist, ist Streife gehen die Rufbereitschaft.Beides das Besondere der Klinikseelsorge.

Die Veränderung im Klinikalltag hat auch Wolfgang Langer wahrgenommen – und noch etwas anderes: „Die Anfrage nach der Krankensalbung ist in Laufe der Jahre zurückgegangen.“ Mag das Sakrament nicht mehr so häufig gespendet werden, anderes hat zugenommen: „Gemeinsame Gebete und die Bitte um einen Segen.“

Es sind Zeichen der Verbundenheit und Nähe, die wichtig sind – sowohl für Menschen in Krisen und Traurigkeit als auch für Mitarbeitende, um die Last ihrer Arbeit tragen zu können. Für Langer auch ein persönlicher Lernprozess: „Es ist eben nicht selbstverständlich, dass man morgens aufstehen kann, die eigenen Beine einen tragen, man Geschmack und Geruch hat.“ Das schule das Herz im Hören.

Klinikseelsorge kann für Susanne Schulze zusätzlich bedeuten, etwas gegen die „Atemlosigkeit im Durchlaufbetrieb des Krankenhauses zu machen.“ Zum einen für Patienten und Angehörige, die oftmals unvorhergesehen in tiefe Krisen geraten, zum Beispiel durch Unfälle: „Wie begleiten wir Eltern, deren 19-jährige Tochter nach einem Unfall zwar noch lebend in die Klinik kommt, sie aber nicht mehr lebend verlassen wird?“

Zum anderen gehe es um ethische Fragen, die sich immer wieder stellen. Susanne Schulze hat ein Ethikkomitee für alle zehn Stadtorte der Kliniken der Region Hannover, zu denen auch das in der Nordstadt gehört, mitbegründet: „Das ist ganz gut gelungen.“ Das Komitee ist gewachsen, mittlerweile finanziert die Region zumindest eine halbe Stelle, damit ethische Fragen im Klinikalltag nicht vergessen werden. Auch das ist eine Folge, wenn mit Goldklumpen auf Streife gegangen wird.

Rüdiger Wala