Variationen über den "maßlos weiten Raum"

Vierte Kulturandacht in der Basilika St. Clemens

Jazz trifft Forschung und Lehre: bei der vierten Kulturandacht mit der Musikwissenschaftlerin Susanne Rode-Breymann und dem Kontrabassisten Johannes Keller spannt sich ein Bogen zwischen Entdeckungsreisen, Improvisation und einem nüchternen Blick auf ein Leben mit dem Virus.

Keine Frage: Corona hat die Kunst hart getroffen. Auch die Künstler*innen in Ausbildung, wie die Studierenden der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover (HMTMH). Für Professorin Susanne Rode-Breymann, Direktorin der Hochschule, war das wie „eine ungeplante „Expedition“ ohne Rucksack und Vorräte“, wie sie bei der vierten Kulturandacht in der Basilika St. Clemens bekennt. Aber in Krisen stecken nun einmal auch Chancen: „Manches, was wir aus dem Stand entwickelt und erprobt haben, werden wir dauerhaft in die Lehre integrieren.“

Aber das Setzen auf digitale Lehre hat für die Musikwissenschaftler auch Grenzen: Hybride, also aus Digital- und Präsenzangeboten gemischte Lehrformen und Eignungsprüfungen mussten erfunden werden. Ihr Fazit: „Nach diesem Kraftakt steht uns der unschätzbare Wert der analogen Welt Musikhochschule noch klarer vor Augen.“ Und weiter: "Aus unserer Perspektive bedarf es einer vernehmlichen kritischen Reflexion, inwieweit der Weg ins Digitale wirklich als Königsweg für Bildung taugt.“

Aber das ist nur die eine, die bildungspolitische Seite, die Susanne Rode-Breymann betrachtet. Eine andere ist der Raum der Hochschule, die konkreten Perspektiven der Studierenden, die Folgen für eine Gesellschaft, der Fragen und sichtbar gewordenen Zerbrechlichkeit gerade in einer Bildungseinrichtung thematisiert werden.

Der "maßlos weite Raum"

Zur Einführung hatte sie aus einem Gedicht der Autorin und Lyrikerin Marion Poschmann zitiert, aus „Die Große Nordische Expedition in 15 Dioramen“ – und damit auch den Bogen zur eigenen „Expedition ohne Rucksack und Verpflegung“ geschlagen. Marion Poschmann beschreibt dabei in 15 bildgewaltigen Sonetten, im Tonfall eher lakonisch, die Erkundung von Sibirien und Jakutien zwischen 1733 und 1743. Vor allem wurde dabei eines entdeckt: „ein maßlos weiter Raum“, wie es die Lyrikerin ausdruckt.

Susanne Rode-Breymann bezieht dieses Bild und diesen Tonfall auf die Situation ihrer Studierenden. „Die Exzellenz eines künstlerischen Studiums als Beginn einer künstlerischen Karriere ist aber ohne gemeinsames Musizieren und ohne den Erfahrungsraum des Auftritts vor realem Publikum nicht erreichbar.“ Eine nüchterne Tatsache. Wie auch: „Das Zurückbleiben der Studienmöglichkeiten hinter dem Notwendigen potenzierte sich durch fehlende Berufsaussichten in der Psyche, umso fragiler wurde der Lebensplan der Musikstudierenden.“ Manche von ihnen haben Widerständigkeit entwickelt, manche haben Schaden an dieser Situation genommen.

In der Sicht der Hochschullehrerin wurde jedoch nicht der Schaden, das Fragile thematisiert, sondern die „Kreativität“ – und mit der Kreativität eine unheilvolle Situation beschönigt, die es geschichtlich betrachtet kaum je so gab. Nachdem alles Erdenkliche für die die körperliche Unversehrtheit getan wurde, müsse jetzt über das diskutiert werden, was unter „Leben“ zu verstehen ist – mit dem Virus. Was hat es für Folgen für Kinder, Jugendliche und Studierende? Welche Lebenswege werden hier vorgezeichnet? Werden Kinder jetzt beginnen, Musikinstrumente zu spielen, werden Studierende ihr Studium abbrechen und in „systemrelevante“ Berufe wechseln? Für Susanne Rode-Breymann gilt es dabei wieder etwas zu entdecken – einen weiten Raum. Und wohl auch improvisiert ohne Rucksack und Verpflegung.

Wie Jazz Lehre und Forschung trifft ...

Musikalisch wird die Andacht vom Kontrabassisten Johannes Keller begleitet. Er greift dabei die Impulse von Susanne Rode-Breymann – in Wort und in Musik. Zum einen die Improvisation: Das sei durchaus ein Bild für die Pandemie. Man probiert aus, arbeitet mit dem, was es gibt und was auf einen zukommt. Für die Existenz als Künstler ohne Auftrittsmöglichkeiten hieß das: Unterricht geben. Jazz trifft Lehre.

Während der Kulturandacht aber tritt Jazz dann eher die Forschung, die Improvisation: „Seit einigen Jahren ist Improvisieren ein wichtiger Bestandteil meines musikalischen Schaffens.“ Zwei kurze Stücke spielt Johannes Keller frei, für die zweite Zwischenmusik wechselt er zum Jazz-Standard „Blue in Green“ von Miles Davis Bill Evans, wieder verbunden mit einer Entdeckungsreise auf seinem Instrument.

Aber auch der „maßlos weite Raum“, hier die akustischen Möglichkeiten in der Basilika, fließt in seine Musikauswahl ein: der Ausschnitt „When i’m laid in Earth“ aus der Oper "Dido and Aeneas“ von Purcell passe sehr gut in die große Akustik von St. Clemens – und stellt auch thematisch eine Verbindung zum übergreifenden Titel der Kulturandachten „How fragile we are…“ her.

Zum Abschluss spielt Keller einen Ausschnitt aus Lieutenant Kijé von Sergei Prokofjew: „Das ist eine der ganz wenigen sinfonischen Solomelodiemotive für den Kontrabass.“ Gespielt wieder im weiten Raum und als Entdeckung.

Rüdiger Wala