Einfach mal anfangen

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Nächstenliebe, Respekt, Gerechtigkeit: Für Andrea Weinhold-Klotzbach gehört das zusammen. Vor allem, wenn es um die Menschen geht, die aus unseren aufgeräumten Innenstädten schon mal verjagt werden.

Er ist schon ein Markenzeichen, der gelbe Drahtesel. „Mein Postfahrrad“, sagt Andrea Weinhold-Klotzbach – und lacht herzlich. Jeden Donnerstag parkt das Gefährt vor der Wärmestube für obdachlose Menschen, die im Keller der katholischen Propstei St. Clemens mitten in Hannover untergebracht ist. Das Fahrrad signalisiert: Kaffee ist fertig, Brötchen sind in Arbeit.

Die 48-Jährige hat die Wärmestube vor eineinhalb Jahren mitangeschoben. Bitterkalt war es im Januar 2021. Hinzu kam: Wegen der Corona-Pandemie und Abstandsgeboten konnten bestehende Tagestreffs, wie eine Caritas-Einrichtung gleich in der Nachbarschaft der Propstei, weniger Menschen ein Obdach bieten – und mussten sie zudem nach einer gewissen Zeit wieder nach draußen schicken. Damit andere Wohnungslose sich auf wärmen konnten.

„Wir mussten kurzfristig was tun“, erinnert sich Weinhold-Klotzbach. Der Keller war frei, so schob sie das Projekt mit an. Im Winter aufwärmen, im Sommer abkühlen. Kaffee, Wasser, Brötchen – und etwas, das selbst in einer Großstadt wie Hannover Seltenheitswert hat: Matratzen zum Ausruhen. Eine Stunde schlafen, ohne Angst zu haben, dass beim Aufwachen die Schuhe oder andere Habseligkeiten fehlen: für Obdachlose ein Segen.

Konkret helfen. Das ist ein Antrieb für Weinhold-Klotzbach. Nächstenliebe. Der andere: Respekt zeigen. Gerade gegenüber Menschen, die aus aufgeräumten Innenstädten auch mal verjagt werden. Die niemand sehen will. Und erst recht nicht hören.

Ungehört – das ist ein weiteres wichtiges Stichwort für die Katholikin. „Stimme der UngeHÖRTen“ – oder abgekürzt: StiDU. So heißt der von Weinhold-Klotzbach mitbegründete Verein, der sich an die Seite von obdachlosen Menschen stellt. Einer der Grundgedanken: eine Ombudsstelle für obdachlose Menschen zu etablieren als eine Mischung aus Beratung, politischer Anwaltschaft und auch pragmatischer Hilfe.

„Viele wohnungslose Menschen kennen ihre Rechte nicht oder wissen sie nicht durchzusetzen“, betont Andrea Weinhold-Klotzbach. Deshalb sei eine Stelle, an der sie ihre Beschwerden loswerden können, so wichtig – und dass sie unabhängig ist. Da wirken schlechte Erfahrungen mit staatlichen Einrichtungen nach. Ob diese Erfahrungen gerechtfertigt sind oder nicht, spielt da erst einmal keine Rolle. „Stimme geben – das entscheidet“, sagt Weinhold-Klotzbach.

Auch wenn die Pandemie den weiteren Aufbau des erst im April 2020 gegründeten Vereins gehemmt hat – die Idee findet auch weit über Hannover hinaus Anerkennung: Im September wird StiDU den renommierten Julius-Rumpf-Preis der in Wiesbaden beheimateten Martin-Niemöller-Stiftung erhalten. Damit werden seit 2007 unter anderem Initiativen ausgezeichnet, die Lücken staatlichen Handelns offenbaren und sich für eine demokratische Alltagskultur positionieren. Oder Ungehörten eine Stimme geben. Für Weinhold-Klotzbach hat das zentral mit Würde und Rechtsstaat zu tun.

Rechtsstaat ist das Handwerkzeug von Andrea Weinhold-Klotzbach. Geboren in Mülheim an der Ruhr, aufgewachsen mit zwei jüngeren Brüdern, hat sie nach dem Abitur an einem damals noch reinen katholischen Mädchengymnasium eine Banklehre gemacht. „Meine Eltern hatten dafür geworben, zuerst einmal etwas Handfestes zu lernen“, sagt sie. Dann aber doch der Rechtsstaat: Jura-Studium in Bonn.

Nach dem Studium verschlug es sie nach Hannover. Über einen Umweg. „Ich habe mich immer auch für Archäologie interessiert“, sagt Weinhold-Klotzbach. So bot sich die Möglichkeit, während des Studiums als Freiwillige an Ausgrabungsarbeiten in Israel teilzunehmen: „Wir haben geholfen, das biblische Hazor auszugraben.“

Nördlich des Sees Gennesaret gelegen war Hazor einst die größte Stadt Kanaans und immerhin 20-mal in der Hebräischen Bibel erwähnt. Die gefundenen Ruinen sind heute Weltkulturerbe. Aber jenseits dieser Ruinen und Arbeiten war da mit Dierk ein junger Mann aus Hannover. Auslöser für Veränderungen: Die zweite Phase der juristischen Ausbildung und für den richterlichen Dienst wurde in der niedersächsischen Landeshauptstadt fortgesetzt – und eine Familie gegründet. Mit Franziska, Christian, Philipp und Katharina werden zwischen 2004 und 2010 vier Kinder geboren. Zunächst versuchte Andrea Weinhold-Klotzbach Familie und Assessorinnenzeit zu vereinbaren. Doch an einem Punkt musste sie sich eingestehen, dass das nicht ging. Sie ging als Staatsanwältin in den Erziehungsurlaub. Vor dem Kindergarten hörte sie ihre jüngste Tochter sagen: „Mama hat sich für uns entschieden.“ Kloß im Hals ...


2015, als über eine Million Flüchtlinge Schutz in Deutschland suchten, hatte die Familie ein Gästezimmer frei: „Die Stadt Hannover hat Pflegeeltern für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gesucht.“ Die Familie konnte sich das gut vorstellen. So kam Nazeer, damals 15 Jahre alt, in die Familie. Quasi Kind Nummer fünf. Heute hat er eine Ausbildung absolviert, lebt in eigener Wohnung und ist häufig zu Besuch. Das große Kind, das ausgezogen ist. „Natürlich gab es auch schwierige Phasen“, erzählt Andrea Weinhold-Klotzbach. Aber unterm Strich war es ein Beispiel dafür, wie junge Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen hier Fuß fassen können. Mit Respekt, Ermutigung und Begleitung.

Zur Aufnahme von Nazeer hat das Jugendamt die Familie mit einem Hinweis ermutigt. „Es ist immer wieder gesagt worden, dass nicht alles perfekt sein muss und man auch scheitern darf“, erinnert sich Andrea Weinhold-Klotzbach. Ein wichtiger Ratschlag, der sie jetzt noch weiter begleitet und das Anfangen von Vorhaben erleichtert – sei es bei Hilfsprojekten in der Heimatpfarrei Heilig Geist, beim Einbringen von sozialen Fragen im Dekanatspastoralrat Hannover oder bei der Gründung von StiDU: anfangen, versuchen. Es darf auch scheitern. Aber es hilft, diese Welt ein Stück respektvoller und gerechter zu machen.

Rüdiger Wala